Ein Jahr Münchner Missbrauchsgutachen

Erzbistum: Betroffene in den Mittelpunkt der Aufarbeitungsarbeit stellen

Vor einem Jahr ist das Münchner Missbrauchsgutachten veröffentlicht worden. Was ist danach passiert? Die Bistumsleitung hat zum Jahrestag die Konsequenzen vorgestellt, die sie daraus gezogen hat. Es begann mit einer Entschuldigung.

Die Bistumsleitung stellt vor, welche Konsequenzen sie aus dem Missbrauchsgutachten gezogen hat (v.l.n.r.): Pressesprecher Bernhard Kellner, Generalvikar Christoph Klingan, Kardinal Reinhard Marx, Amtschefin Stephanie Hermann, Christine Stermoljan, Leiterin der Stabsstelle "Prävention" im Erzbischöflichen Ordinariat, Pfarrer Kilian Semel, Leiter der Stabsstelle "Seelsorge und Beratung für Betroffene von Missbrauch und Gewalt" © Kiderle

Das größte Defizit sei gewesen, die Betroffenen von Missbrauch nicht genug in den Blick genommen zu haben, sagte Kardinal Reinhard Marx zu Beginn der Pressekonferenz anlässlich des vor einem Jahr veröffentlichten Missbrauchsgutachtens. Ihre Anliegen und Bedürfnisse seien zu wenig berücksichtigt worden - "das müsse er als Erzbischof selbstkritisch einordnen". Er bat um Entschuldigung für das damit verbundene Leid, für das er als Erzbischof Verantwortung trage: "Ich kann Geschehnisse nicht rückgängig machen, aber jetzt in Zukunft anders handeln. Das tue ich und kann es immer wieder verbessern."

Einrichtung einer neuen Stabsstelle

In den vergangenen zwölf Monaten ist die Stabsstelle "Seelsorge und Beratung für Betroffene von Missbrauch und Gewalt" eingerichtet worden. Diese wird von Pfarrer Kilian Semel geleitet, der selbst als Kind von einem Priester sexuell missbraucht wurde. Er ist davon überzeugt, dass er durch seine eigene Erfahrung anders auf Betroffene zugehe als jemand, der es nur von der "Theorie" kenne. Im vergangenen Jahr haben sich 100 Personen an die Stelle gewandt. Die meisten Menschen waren zwischen Mitte 60 und Anfang 80 Jahre alt. "Gerade in den 50er, 60er, 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts habe eine hohe Zahl an Missbrauch stattgefunden, die nicht an die Öffentlichkeit gekommen ist", erläutert Semel die Altersstruktur. Für viele sei der Weg an die Öffentlichkeit eine "Retraumatisierung", da viele Bilder und Erinnerungen hochkommen. Es gehe daher darum, konkrete Hilfe anzubieten, um jemanden in dem Prozess zu begleiten: "Was können wir für Dich tun, damit Du das gut verarbeiten und aufarbeiten kannst?" Neben Pfarrer Semel sind auch zwei Psychologinnen mit Therapieerfahrung bei der Stabsstelle angestellt, die in Zukunft personell weiter ausgebaut werden soll. 

Wenn Sie selbst von Missbrauch betroffen sind, oder jemanden kennen, der von Missbrauch in der katholischen Kirche betroffen ist, dann finden Sie auf der Seite der Deutschen Bischofskonferenz Informationen, wohin Sie sich wenden können. Auch im Erzbistum München und Freising gibt es verschiedene Anlaufstellen für Betroffene.

Auch wenn noch viel zu tun sei, zieht Richard Kick, Sprecher des Münchner Betroffenenbeirats, ein Jahr nach der Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens eine positive Bilanz: "Grundsätzlich ist gut, was bisher passiert ist".  So sei einiges, was der Betroffenenbeirat gefordert habe, in der Zwischenzeit umgesetzt worden: die Hotline für Betroffene, die Einrichtung der Stabsstelle Seelsorge und Beratung, die Bereitstellung von Therapieplätzen an der LMU München oder die Möglichkeit für Betroffene, sich an unabhängige nichtkirchliche Fachberatungsstellen wenden zu können. Besonders lobt Richard Kick die Zusammenarbeit zwischen dem Betroffenenbeirat und Generalvikar Klingan und Amtschefin Herrmann: "Der intensive Austausch hat eine gute Basis geschaffen".

Betroffenenbeirat sieht Freistaat bei Aufarbeitung von Missbrauch in der Pflicht

Für die Zukunft wünscht sich der Sprecher des Betroffenenbeirats eine vom Freistaat eingerichtete flächendeckende Anlaufstelle für Missbrauchsbetroffene. Dabei müsse natürlich die Kirche in den Blick genommen werden, aber auch Missbrauch in der Familie und das Thema Kinderpornographie gehörten dazu. Der Staat müsse die Aufarbeitung stringend angehen: "Der Missbrauch von Kindern kann nicht von Ehrenamtlichen-Kommissionen aufgearbeitet werden. Das muss in die Hand von Spezialisten". 

Die Anlauf- und Beratungsstelle für Betroffene von sexuellem Missbrauch des Erzbistum München und Freising ist von Montag bis Freitag jeweils von 9-12 Uhr und außerdem am Dienstag und Mittwoch jeweils von 16-19 Uhr unter 089/2137-77000 zu erreichen.

Am 20. Januar 2022 wurde das Münchner Missbrauchsgutachten veröffentlicht. Die Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl hat den Umgang mit sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising im Zeitraum von 1945 bis 2019 untersucht. Im Gutachten wird von 235 mutmaßlichen Tätern und 497 Betroffenen gesprochen. Kardinal Wetter und dem kürzlich verstorbenen emeriterten Papst Benedikt XVI. wird im Gutachten Fehlverhalten im Umgang mit Missbrauchstätern während ihrer jeweiligen Amtszeit als Erzbischof von München und Freising attestiert. Kardinal Wetter hat sich für sein Fehlverhalten entschuldigt. Die Gutachter warfen außerdem dem Münchner Kardinal Reinhard Marx vor, sich nicht ausreichend um die Behandlung der Fälle sexuellen Missbrauchs gekümmert zu haben. Der Münchner Prälat Lorenz Wolf verlor nach Veröffentlichung des Gutachtens seine Ämter als oberster Kirchenrichter des Erzbistums und als Leiter des Katholischen Büros Bayern. Als Domdekan fungiert er weiterhin.

Die Autorin
Katharina Sichla
Teamleiterin mk online
k.sichla@michaelsbund.de