Missbrauch in der katholischen Kirche

Gutachter: 235 mutmaßliche Täter, 497 Betroffene im Münchner Erzbistum

Die Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl hat den Umgang mit sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising im Zeitraum von 1945 bis 2019 untersucht. Die Zahl der von Missbrauch Betroffenen liege bei 497. Papst em. Benedikt XVI. belastet das Gutachten schwer.

Pressekonferenz zur Vorstellung des Gutachtens der Kanzlei zu Fällen von sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising am 20. Januar 2022 in München. © Sven Hoppe/dpa-POOL/KNA

München – Die Gutachter haben bei ihrer Prüfung von Missbrauchstaten im Erzbistum München und Freising 235 mutmaßliche Täter von 1945 bis 2019 ermittelt. Davon seien 173 Priester gewesen, sagte Anwalt Martin Pusch am Donnerstag in München. Die Zahl der Geschädigten liege bei 497. Davon seien 247 männliche Betroffene gewesen, 182 weiblich. Bei 68 Personen sei das Geschlecht nicht festzustellen gewesen. Dies bestätige, dass überwiegend männliche Kinder und Jugendliche betroffen gewesen seien.

Bei fast 60 Prozent von diesen seien die Taten im Alter zwischen 8 und 14 Jahren erfolgt. Bei den weiblichen Betroffenen gelte dies für ein Drittel der Personen. Die meisten Taten seien in den 1960er und 1970er Jahren begangen worden, so Pusch. Auffällig viele Tatvorwürfe seien von Betroffenen erst ab dem Jahr 2015 gemeldet worden. Der Anwalt betonte, bei diesen Zahlen handle es sich um das "Hellfeld", das "Dunkelfeld" sei weitaus größer.

Opfer nicht wahrgenommen

67 Kleriker hätten laut Pusch aufgrund der "hohen Verdachtsdichte" aus Sicht der Anwälte eine kirchenrechtliche Sanktion verdient. In 43 Fällen sei jedoch eine solche unterblieben. 40 von ihnen seien weiter in der Seelsorge eingesetzt worden, darunter auch 18 Priester nach einer strafrechtlichen Verurteilung eines weltlichen Gerichts.

Pusch sagte, Geschädigte seien bis 2002 von den Kirchenverantwortlichen "so gut wie überhaupt nicht wahrgenommen worden", falls doch, "dann nicht aufgrund des ihnen zugefügten Leids, sondern weil man sie als Bedrohung für die Institution sah".

Wenn Sie selbst von Missbrauch betroffen sind, oder jemanden kennen, der von Missbrauch in der katholischen Kirche betroffen ist, dann finden Sie auf der Seite der Deutschen Bischofskonferenz Informationen, wohin Sie sich wenden können. Auch im Erzbistum München und Freising gibt es verschiedene Anlaufstellen für Betroffene.

Das Gutachten über die Amtszeit von Kardinal Ratzinger

Die Anwälte werfen Papst Benedikt XVI. in vier Fällen während seiner Amtszeit als Erzbischof von München und Freising (1977-1982) Fehlverhalten vor. Rechtsanwalt Martin Pusch wies zugleich darauf hin, dass das emeritierte Kirchenoberhaupt in einer persönlichen Stellungnahme dies in allen Fällen zurückgewiesen habe. Seine Stellungnahme ist mit seiner Einwilligung mit dem Gutachten veröffentlicht worden.

Nach Puschs Ausführungen betreffen zwei Fälle Priester, die unter Erzbischof Joseph Ratzinger wegen Missbrauchs strafrechtlich sanktioniert worden waren, aber beide weiter als Seelsorger arbeiten durften. Kirchenrechtlich sei gegen sie nicht vorgegangen worden, von Fürsorge gegenüber ihren Opfern "nichts erkennbar".

Benedikts Einlassungen bieten aus Sicht der Anwälte "einen authentischen Einblick" zur persönlichen Haltung eines herausgehobenen Kirchenvertreters zum Missbrauchsgeschehen.

Die Gutachter bekunden erhebliche Zweifel an Aussagen von Benedikt XVI. zu einem besonders brisanten Fall eines Wiederholungstäters. Der emeritierte Papst wiederholt in seiner 82-seitigen Stellungnahme seine Angaben, dass er von der Vorgeschichte des 1980 von Essen nach München versetzten pädophilen Priesters damals nichts gewusst habe und bei der entscheidenden Sitzung nicht anwesend gewesen sei.

Dagegen verwies Anwalt Ulrich Wastl auf das Protokoll der Ordinariatssitzung, bei der die Aufnahme besprochen worden sei. Dieses vermerke Ratzinger nicht als abwesend. Zudem dokumentiere es, dass der Erzbischof bei derselben Sitzung über die Trauerfeier für den Berliner Kardinal Alfred Bengsch und über vertrauliche Gespräche mit dem damaligen Papst Johannes Paul II. über den Theologen Hans Küng berichtet habe.

Das Gutachten steht auf der Homepage der Anwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl (WSW) zum Download bereit.

Das Gutachten über die Amtszeit von Kardinal Wetter

Das Münchner Missbrauchsgutachten attestiert dem früheren Erzbischof Kardinal Friedrich Wetter Fehlverhalten in 21 Fällen. Dabei müsse man die lange Amtszeit Wetters von mehr als 25 Jahren berücksichtigen, sagte Anwalt Martin Pusch. Nennenswerte Aktivitäten des Erzbischofs mit Blick auf Beschuldigte oder einer Aufklärung seien von einzelnen Ausnahmen abgesehen nicht ersichtlich.

Der Kardinal selbst habe mit Ausnahme eines Falles ein Fehlverhalten bestritten. Erst ab dem Jahr 2010 sei offen über die Thematik des sexuellen Missbrauchs in der Kirche gesprochen worden. Wetter mache eine mangelnde Kenntnis über die Dimensionen sexuellen Missbrauchs geltend. Dies sei angesichts der Berichterstattung, etwa über den Fall Groer und die Ereignisse in den USA, eine "wenig tragfähige Schutzbehauptung", so Pusch. "Plausibler erscheint uns die Verdrängung eines mit Händen greifbaren Problems."

Das Gutachten über die Amtszeit von Kardinal Marx

Die Gutachter werfen dem Münchner Kardinal Reinhard Marx vor, sich nicht ausreichend um die Behandlung der Fälle sexuellen Missbrauchs gekümmert zu haben. "Wann, wenn nicht im Fall des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger ist die Einordnung einer Thematik als Chefsache zutreffend", sagte Pusch. Dies gelte erst recht mit Blick auf die zentrale Rolle des Diözesanbischofs in den einschlägigen Regelwerken. "Dass Erzbischof Kardinal Marx diese wahrgenommen hätte, war für uns jedoch nicht feststellbar." Eine gewisse Änderung habe sich erst ab dem Jahr 2018 ergeben.

Ungeachtet der Vielzahl der seit 2010 eingegangenen Meldungen zu Missbrauch durch noch lebende Kleriker sei für Marx als Erzbischof in einer nur verhältnismäßig geringen Zahl eine unmittelbare Befassung feststellbar, kritisieren die Gutachter. Im wesentlichen habe er sich darauf beschränkt, die verwaltungsseitig vorgeschlagenen Maßnahmen, die ihm als Diözesanbischof oblägen, umzusetzen. Der Kardinal sehe die regelkonforme und sachgerechte Behandlung von Missbrauchsfällen in erster Linie bei Generalvikar und Ordinariat. Er selber sei primär für die Verkündigung des Wortes Gottes zuständig.

Diese Sichtweise teile man nicht uneingeschränkt. Sie greife angesichts der "zentralen, mit einer Vielzahl von erheblichen Risiken verbundenen Thematik" zu kurz, so Pusch. Konkret fehlerhaftes Verhalten attestieren die Gutachter Marx in zwei Fällen. Dabei handele es sich vor allem um die Frage, ob eine Meldung an die Glaubenskongregation erfolgt sei.

"Letzte Chance verspielt"

Bei der Übergabe der vier Bände äußerte sich der Münchner Generalvikar Christoph Klingan "bewegt und beschämt". Seine Gedanken seien zunächst bei den Betroffenen. Marx war bei der Präsentation nicht zugegen. Der Vatikan wollte sich zu der Expertise vorerst nicht äußern und diese erst prüfen.

Der Sprecher der Betroffeneninitiative Eckiger Tisch, Matthias Katsch, sprach mit Blick auf Benedikt XVI. von einem "Lügengebäude", das nun zum Einsturz gebracht worden sei. Der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller sagte der "Rheinischen Post", mit seiner Stellungnahme habe Ratzinger "die letzte Chance verspielt, reinen Tisch zu machen mit seiner Verantwortung als Erzbischof von München und Freising für seine Vertuschung von Sexualstraftaten". (kna)