Meinung
Schutzkonzepte in der Kirche

Prävention von Missbrauch: Ist viel genug?

Steckt die Kirche bei der Prävention von Missbrauch in einem Dilemma? So unstrittig es ist, sich bestmöglich für den Schutz von Kindern und Jugendlichen einzusetzen, so schwer erträglich ist es für unseren Autor, wenn tröstende Umarmungen als unerwünscht deklariert werden.

Präventionsregeln sollten dem Verhindern von Übergriffen dienen und nicht selbst übergriffig werden. © Mortion - stock.adobe.com

Die Anstrengungen, die die Erzdiözese unternommen hat, um auf die erschreckenden Erkenntnisse über sexuellen Missbrauch in der Kirche zu reagieren, sind beachtlich. Auf den Weg gebracht wurde in kurzer Zeit ein umfangreiches Maßnahmenpaket, das von Telefonberatung über Kunstaktionen und ein E-Learning-Programm bis zur Einstellung von Fachkräften reicht. Man kann den Eindruck gewinnen, dass nahezu alles getan wurde, was möglich war.
Es mehren sich bereits die Stimmen, die das Handeln der Erzdiözese – der doch vor Kurzem noch Komplettversagen vorgeworfen wurde! – als vorbildlich loben und zunehmend andere Institutionen oder den Staat in der Bringschuld sehen. Auch Kardinal Marx bilanzierte nun, man habe „Pionierarbeit für viele andere gesellschaftliche Bereiche“ geleistet. Und dass mit Pfarrer Kilian Semel ein selbst von Missbrauch betroffener Priester die neue Stabsstelle Seelsorge und Beratung leitet, ist eine bemerkenswerte Personalentscheidung, die in anderen Bistümern Nachahmer finden dürfte. Beinahe könnte man versucht sein, aufzuatmen und einen innerlichen Schlussstrich zu ziehen.

Wie lässt sich Leid verrechnen?

Aber so einfach ist es nicht – weder bei der Aufarbeitung noch in der Prävention. Zum einen bestehen mit Blick auf vergangene Missbrauchsfälle nach wie vor offene Fragen: Wie bestimmt man die angemessene Höhe finanzieller Entschädigungen für Betroffene, deren Leid sich oft nicht vergleichen und in eine allgemeingültige Preisliste übersetzen lässt? Wie geht man mit Betroffenen um, die innerlich abgeschlossen haben und für kein Hilfsangebot zugänglich sind – und wie mit dem Andenken an bekannte Beschuldigte? Und wie war es überhaupt möglich, dass manche Priester ihren Schutzbefohlenen Leid antaten, anstatt sie auf dem Weg in ein gelingendes Leben zu unterstützen? Hinzu kommt das irritierende Paradoxon, dass im Erzbistum kein personeller Neuanfang möglich war – einerseits weil die meisten Beteiligten von damals längst tot oder außer Dienst waren, andererseits weil ausgerechnet der wirkmächtigste Rücktritt, der des Erzbischofs, vom Papst nicht akzeptiert wurde.

Umarmungen unerwünscht

Zum anderen gilt es in der Präventionsarbeit das rechte Maß auszuloten. So unstrittig es ist, sich bestmöglich für den Schutz insbesondere von Kindern und Jugendlichen einzusetzen – wie weit will man gehen bei der Verabschiedung neuer, noch strengerer Verhaltenskodizes, Schutzkonzepte und Handreichungen gegen Missbrauch? Auch wenn jede verschriftete Regel zum korrekten Verhalten im Einzelnen begründet ist: Es muss auch darauf geachtet werden, dass unsere Kirche nicht zu einem überregulierten Raum wird, in der Haupt- wie Ehrenamtliche erst zahlreiche Schulungen durchlaufen müssen, um „richtig“ miteinander umgehen zu können. Wenn im Präventionskonzept einer Pfarrei steht: „Betreuungspersonen wissen um die verschiedenen Möglichkeiten, Nähe zum Kind auszudrücken, ohne das Kind körperlich berühren zu müssen“, dann agiert man hier als Kirche hart am Rande des Erträglichen, indem in einem technokratischen Amtsdeutsch sogar tröstende Umarmungen als unerwünscht deklariert werden. Insgesamt darf kein Klima der völligen Verkrampftheit und des Misstrauens entstehen.

Meldung beim Jugendamt

Was passieren kann, wenn Präventionsregeln nicht mehr dem Verhindern von Übergriffen dienen, sondern selbst übergriffig werden, zeigt ein Vorfall aus England: In einem Kindergarten war neben dem pädagogischen Personal auch eine Psychologin anwesend, um ein Kleinkind mit vermuteter Entwicklungsstörung zu beobachten. Als sich das Kleinkind beim Spielen im Freien über ein ungewohntes schrilles Geräusch erschrak und in panischer Angst zu schreien anfing, eilte sofort die Psychologin herbei, nahm das Kind auf den Arm, beruhigte es und trug es ins Gruppenzimmer zurück. Die Erzieherinnen sahen dies und erstatteten – völlig richtlinienkonform – umgehend Meldung beim Jugendamt sowie bei den Eltern, denn die Frau hätte das Kind nach den geltenden Regeln niemals einfach so anfassen dürfen. Wie aber reagierte die Mutter des Kindes? Sie kam anderntags mit einem Blumenstrauß in den Kindergarten und bedankte sich unter Tränen bei der Psychologin für deren liebevolle – und sicherlich christliche – Reaktion.

Vielleicht ist das ein guter Gedanke auch fürs Erzbistum München und Freising, wo nun so viele fachliche und bürokratische Dinge auf den Weg gebracht sind und wo zugleich auffällig oft zu hören ist, dass theoretisch „immer noch mehr“ möglich, „immer Luft nach oben“ sei: Kirche muss keine absolut perfekte, sterile Behörde, kein cleaner, kontaktloser Compliance-Betrieb werden, sie darf – auch im Interesse von Missbrauchsbetroffenen! – eine warmherzige und menschliche Kirche sein; im besten und aufrichtigsten Bemühen für die Schwachen und Geschädigten, aber selbst auch ehrlich, nahbar und ein bisschen zerbeult – aus dem Dilemma kommen wir nicht heraus.

Der Redakteur
Joachim Burghardt
Münchner Kirchenzeitung
j.burghardt@michaelsbund.de