Meinung
Missbrauch im Münchner Erzbistum

Gutachten legt kirchliches Fehlverhalten offen

Das heute veröffentlichte Gutachten über sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising markiert einen bedeutenden, aber auch schlimmen Tag in der deutschen Kirchengeschichte. Er muss Konsequenzen für die Kirche aber auch für die ganze Gesellschaft nach sich ziehen. Ein Kommentar.

Vier Bände umfasst das Missbrauchsgutachten der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl. © Sven Hoppe/dpa-POOL/KNA

„Cooperatores veritatis - Mitarbeiter der Wahrheit“ - dieses Wort aus dem dritten Johannesbrief im Neuen Testament hat sich Joseph Ratzinger zum Wahlspruch genommen, als er 1977 zum Bischof geweiht wurde. Nicht nur er, sondern alle Verantwortungsträger im Erzbistum München und Freising und zahllosen anderen Diözesen waren es offenbar nicht, wenn es um sich um sexuellen Missbrauch und Straftaten aus den eigenen Reihen handelte.

Papst Benedikt XVI. wollte ein "Mitarbeiter der Wahrheit" sein

Das legt das an diesem Donnerstag veröffentlichte Missbrauchsgutachten nahe. Ja, Oberhirten können gar nicht anders, als viele Verwaltungsfragen und -entscheidungen an ihre Mitarbeiter zu delegieren. Sie haben oft keine unmittelbare Akteneinsicht oder können an Personalsitzungen nicht teilnehmen. Mitarbeiter interpretieren ihren Ermessensspielraum großzügig , legen Protokolle und Anweisungen vor, die der Bischof dann ohne großes Prüfen unterschreibt. Da mag Schuld auf den oberen Managementebenen von Ordinariaten liegen, aber die Verantwortung tragen die Bischöfe. Gerade, wenn es sich um den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen handelt.

Bischöfe haben beim sexuellen Missbrauch weggeschaut

Und sie haben weggeschaut, männerbündische Netzwerke gewähren lassen, Vertuschungen zumindest begünstigt. Sie wollten das Ansehen der Institution schützen und haben es gerade durch dieses Verhalten beschädigt. Es ist bitter, dass dieser Vorwurf auch einen faszinierenden Jahrhunderttheologen wie Papst Benedikt XVI. trifft. Es hätte der Kirche gutgetan, hätte sich Papst Benedikt XVI. schon beim ersten Gutachten im Jahr 2010 zu seiner persönlichen Verantwortung bekannt. Es hätte Maßstäbe gesetzt, an denen kein Bischof mehr vorbeigekommen wäre. Stattdessen der Verweis auf das Fehlverhalten anderer. Erschütternd ist, dass auch kein anderer der noch lebenden Verantwortlichen die schlichten Worte gesprochen hat: „Ich bin ein Sünder und kann meine Schuld nicht auf andere schieben.“ Lediglich Kardinal Marx hat sich in seinem Rücktrittsangebot im vergangenen Sommer zu dieser persönlichen Verantwortung bekannt und Konsequenzen angeboten.

Opfer von Missbrauch waren unwichtig

Ebenso furchtbar bleibt die Feststellung des Gutachtens, dass jahrzehntelang niemand daran gedacht hat, wie es den Opfern geht. Keiner hat sie beachtet, sie waren ein Randphänomen. Dem Gutachtervorschlag, für sie eine unabhängige Ombudsstelle einzurichten, sollte das Erzbistum unbedingt folgen. Trotzdem macht es sich die kirchliche wie die nichtkirchliche Öffentlichkeit zu einfach, nach diesem Missbrauchsgutachten Schuld und Verantwortung exklusiv bei katholischen Würden- und Entscheidungsträgern abzuladen. Darauf hat der Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofkonferenz zu Recht hingewiesen.

Sexuelle Gewalt ist kein katholisches Sonderproblem

Oft haben Pfarreien und „normale“ Katholiken den meistens sehr charismatischen Tätern vorschnell Persilscheine ausgestellt. Nach dem Motto: das kann vielleicht anderswo, aber doch nicht bei uns unserem Pfarrer passieren. Betroffene sind dadurch zum zweiten Mal Opfer geworden, weil ihnen niemand geglaubt hat, sofern sie sich überhaupt trauten, den Mund aufzumachen. Von diesen Betroffenen gibt es viel zu viele, und bei weitem nicht nur in der Kirche. Dass momentan deren institutionelles Versagen debattiert wird, ist verständlich und richtig. Mit ihren eigenen moralischen Ansprüchen, wird ihre Fallhöhe zu einem furchtbaren Abgrund. Es ist aber auch gefährlich: weil es vom Missbrauch ablenkt, der überall sonst geschehen ist und weiter geschieht: in Familien, Sportvereinen, Schulen oder Medien. Auch dort braucht es endlich Mitarbeiter der Wahrheit, die das Leiden der Opfer wahrnehmen und sich für sie einsetzen.

Der Autor
Alois Bierl
Chefreporter Sankt Michaelsbund
a.bierl@michaelsbund.de