Bedeutung und Entstehung der Psalmen

Das Gebetbuch der Bibel

Herzstück des Stundengebets, die Urform der Kirchenmusik und zeitlose Poesie von Weltrang: Die Psalme. Bis heute faszinieren und inspirieren sie die Menschen.

Für Martin Luther sind die Psalme die Summe der Bibel. © manusapon - stock.adobe.com

Weltliteratur – diese Bezeich­nung haben schon viele Bücher bekommen. Auf den Psalter, die Sammlung der Psalmen im Alten Testament, trifft sie aber zweifellos zu. Nirgendwo findet man treffendere Freudengesänge, nirgend­wo tiefere Traurigkeit als hier, wusste schon Martin Luther. Für ihn sind die Psalmen die Summe der Bibel – ihre Essenz. Bis heute faszinieren und inspirieren sie die Menschen. Sie sind das Herzstück des Stundengebets, die Urform der Kirchenmusik und zeitlose Poesie von Weltrang. Sie stel­len das Rückgrat des jüdisch-christli­chen Kults dar: Das Alte Testament wird durch sie er­schlossen, die fro­he Botschaft Jesu in ihnen prophe­tisch grundgelegt. Nicht umsonst wird der Psalter von Dietrich Bon­hoeffer auch als das „Gebetbuch Jesu“ bezeichnet: In seinen letzten Worten am Kreuz zitiert Jesus gleich mehrfach Psalmen. Überhaupt wird auf keinen Text des Alten Testaments in den Evangelien häufiger zurückgegriffen.

Gebrauchsanweisung für das Leben

Für das Judentum der Antike stellen die Psalmen im Alltag die wichtigsten religiösen Texte dar. Durch die Psalmen wird die Tora, das Gesetz in den Büchern Mose und die Basis der hebräischen Bibel, zugänglich gemacht, erklärt Christina Schütz vom Lehrstuhl für alttestamentliche Theologie der Universität Eichstätt. Die Psalmen sind somit die Ge­brauchsanweisung für das Leben frommer Juden zur Zeit Jesu. Ein Anspruch, der im ersten Psalm unter­mauert wird: Wer vor Gott bestehen will, hat sich nicht nur an das Gesetz zu halten. Er soll „Lust“ daran haben und Tag und Nacht darüber sinnie­ren. Die 149 folgenden Psalmen erklären, wie genau das zu tun ist. „Der Psalter war somit die Tora des Alltags für fromme Juden“, erläutert Schütz.

Psalm 1


Selig der Mann, der nicht nach dem Rat der Frevler geht,/

nicht auf dem Weg der Sünder steht,/

nicht im Kreis der Spötter sitzt,/

sondern sein Gefallen hat an der Weisung des HERRN,/

bei Tag und bei Nacht über seine Weisung nachsinnt./

Er ist wie ein Baum,/

gepflanzt an Bächen voll Wasser,/

der zur rechten Zeit seine Frucht bringt /

und dessen Blätter nicht welken./

Alles, was er tut, es wird ihm gelingen. /

Nicht so die Frevler: /

Sie sind wie Spreu, die der Wind verweht. /

Darum werden die Frevler im Gericht nicht bestehen /

noch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten./

Denn der HERR kennt den Weg der Gerechten, /

der Weg der Frevler aber verliert sich./

Im Gegensatz zur Tora, die zu lesen nur wenige Priester in der Lage waren, hält sie es für nicht un­wahrscheinlich, dass viele Juden einen Großteil der Psalmen auswendig beherrschten. Während die Bücher Mose vor allem etwas für den Tempel und für Feiertage waren, bedienten die Psalmen die Alltagsreligiosität und spiegeln die Volksfrömmigkeit des frühen Judentums wider. Zusätz­lich zu dieser „Handbuch-Funktion“ diente der Psalter wohl auch als Andachts- und Gebetsbuch – und als prophetische Schrift.

In ihm zeigt sich die vergangene und künftige Beziehung der Men­schen zu Gott. „Man tritt in Dialog mit ihm“, sagt Schütz – meistens in klagender Form: Israel jammert. Über Krankheit, Plagen und den Tod. Über Gottes Zorn und die Schlecht­heit des Menschen. Es ist eine anthro­pologische Reflexion der Welt und ein Versuch, Gott und seine Bezie­hung zu den Menschen in diesen Kon­text einzuordnen. Im Verlauf wandelt sich die Klage dabei immer mehr zu einem Lob Gottes, das schließlich im Halleluja des Psalms 150 gipfelt.

Psalm 23


Psalm Davids. /

Der HERR ist mein Hirt, /

nichts wird mir fehlen. /

Er lässt mich lagern auf grünen Auen /

und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. /

Meine Lebenskraft bringt er zurück. /

Er führt mich auf Pfaden der Gerechtigkeit, /

getreu seinem Namen. /

Auch wenn ich gehe im finsteren Tal, /

ich fürchte kein Unheil; /

denn du bist bei mir, /

dein Stock und dein Stab, sie trösten mich. /

Du deckst mir den Tisch /

vor den Augen meiner Feinde. /

Du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, /

übervoll ist mein Becher. /

Ja, Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang /

und heimkehren werde ich ins Haus des HERRN /

für lange Zeiten.

Dieser dialogische Charakter der Psalmen wird durch eine sprachliche Struktur der Texte unterstrichen, die bis heute Dichter und Schriftsteller inspiriert: Einzelne Verse bestehen aus zwei beziehungsweise drei Teilen, die sich gegenseitig ergänzen, fort­führen und erst gemeinsam einen Sinn ergeben. „Parallelismus Membrorum“ wird dieser Stil genannt. Mehrere Perspektiven werden eingenommen, um das an sich nicht erklärbare Zusammen­spiel zwischen Gott und der Welt in Worte zu fassen. Eine Art spirituelle Triangulation. Techniken wie den „Wie-Vergleich“ kennt man beispielsweise auch heute noch aus modernen Songtexten. Neben derartigen rhetorischen Stilmitteln verdanken die Psalmen ihren zwei­einhalbtausendjährigen Erfolg aber auch der Bildgewalt ihrer Sprache. Der „gute Hirte“, aus dem wohl beliebtesten Psalm 23 tröstet auch heute noch sich nach Vertrauen und Zuflucht sehnende Menschen. Aus dem Lobpsalm 104 hört man die Begeisterung eines Abenteurers, der in der Betrachtung der unbän­digen Natur die Spuren eines gött­lichen Schöpfers findet. Da verwundert es nicht, dass die jüdisch-christliche Kultur diese Sprach-bilder über die Jahrhunderte nahezu ikonographisch gepflegt hat.

Psalm 150


Halleluja! /

Lobt Gott in seinem Heiligtum, /

lobt ihn in seiner mächtigen Feste! /

Lobt ihn wegen seiner machtvollen Taten, /

lobt ihn nach der Fülle seiner Größe! /

Lobt ihn mit dem Schall des Widderhorns, /

lobt ihn mit Harfe und Leier! /

Lobt ihn mit Trommel und Reigentanz, /

lobt ihn mit Saiten und Flöte! /

Lobt ihn mit tönenden Zimbeln, /

lobt ihn mit schallenden Zimbeln! /

Alles, was atmet, lobe den HERRN. /

Halleluja!

Dabei können die Psalmen in der Form, wie sie beispielsweise in der deutschen Einheitsübersetzung enthalten sind, ihre volle Wirkung gar nicht entfalten. „Notlösungen“ findet der Autor und Theologe Arnold Stadler: Am besten komme der Inhalt der Psalmen stattdessen in der Sprache, der Zeit und dem kulturellen Umfeld des Lesers zur Geltung. Weil diese Be­dingungen sich aber ständig ändern, wurden die Texte auch immer ak­tualisiert: Vom hebräischen Ta­nach über die griechische Sep­tuaginta im dritten Jahrhundert vor Christus und die lateinische Vulgata im vierten Jahrhundert nach Christus bis hin zur deutschen Übersetzung der Bibel durch Luther. Weil aber jede Zeit ihre eigene Übersetzung braucht, begann auch Stadler schon während seines Studiums, einen Großteil der Psalmen neu zu übersetzen oder zu „übertragen“, wie er es nennt. Aus dem originalen Hebräischen – in ein für ihn zeitgemäßes Deutsch. Eine solche „Vergegenwärtigung“ müsse jede Generation mindestens einmal betreiben, sagt der Büchner-Preisträger, „sonst wird es museal“.

König David – das Ideal des Psalmbeters

Heute können sich Theologen da­bei auf immer tiefgreifendere wissen­schaftliche Erkenntnisse stützen. Sowohl der Entstehungsprozess der Psalmen als auch ihr inhaltlicher Kontext lassen sich immer besser rekonstruieren. Während bis ins 18. Jahrhundert die Autorenschaft König Davids relativ unbestritten war, weiß man heute, dass der Psalter keineswegs von einem einzelnen Mann mit seiner Harfe erdichtet wurde. „König David stellt vielmehr das Ideal des Psalmbeters dar“, erklärt Schütz die weit verbreitete Darstellung.

Statt aus der Feder König Davids sind die Psalmen über einen längeren Zeitraum zwischen dem sechsten und zweiten Jahrhun­dert vor Christus entstanden, wobei einige wohl auch noch weit älter sind. Später waren sie ein Kernbestandteil der Liturgie im zweiten Jerusalemer Tempel und dienten den dortigen Sängergilden als Liederbuch. Doch erst im zweiten Jahrhundert vor Christus wurden die Psalmen in ihrer heutigen Reihen­folge und Anzahl kanonisiert.

 

Psalm 104,16–24


Die Bäume des HERRN trinken sich satt,/

die Zedern des Libanon, die er gepflanzt hat,/

dort bauen die Vögel ihr Nest,/

auf den Zypressen nistet der Storch./

Die hohen Berge gehören dem Steinbock, /

dem Klippdachs bieten die Felsen Zuflucht. /

Du machst den Mond zum Maß für die Zeiten, /

die Sonne weiß, wann sie untergeht. /

Du sendest Finsternis und es wird Nacht, /

dann regen sich alle Tiere des Waldes. /

Die jungen Löwen brüllen nach Beute, /

sie verlangen von Gott ihre Nahrung. /

Strahlt die Sonne dann auf, so schleichen sie heim /

und lagern sich in ihren Verstecken. /

Nun geht der Mensch hinaus an sein Tagwerk, /

an seine Arbeit bis zum Abend. /

Wie zahlreich sind deine Werke, HERR, /

sie alle hast du mit Weisheit gemacht, /

die Erde ist voll von deinen Geschöpfen.

Während so inzwischen vieles über die Ursprünge der Psalmen in ihrer Textform bekannt ist, lässt sich ihr eigentlich musikalischer Charakter heu­te nicht mehr rekonstruieren. Große Komponisten wie Bach, Mendelssohn oder Bruckner vertonten den Psalter zwar in künstlerischer Form, über Rhythmus und Melodie der originalen Gesänge weiß man heute aber nichts mehr. Für das neue Gotteslob von 2013 wurden deshalb zahlreiche Psalmen neu vertont oder „eingerichtet“, wie Kirchenmusikprofessor Markus Eham von der katholischen Universität Eich­stätt erklärt. Dabei geht es nämlich nicht darum, aufwendige Musik zu komponieren, hinter der das eigentliche Gebet zurücksteht: „Bei der Einrich­tung eines Psalms führt der Text die Regie.“ Sie wird um den Kehrvers konstruiert. Professor Eham richtete so den Psalm 90 ein. Die einzige Vorgabe, die er dabei erfüllen musste: Der lange Ton zu Beginn sollte ein „D“ sein.

Trotz aller Erfolge, die Sprache, Be­deutung und Entstehung der Psalmen zu rekonstruieren, und trotz ambitio­nierter neuer Vertonungen bleibt vieles um den Psalter aber „im Dunkeln“, sagt Theologin Schütz. Doch gerade in dieser Unbestimmtheit entstehen auch die Räume dafür, diese uralte Poesie ganz persönlich zu erschließen. So – versprach schon Luther – findet im Psalter jeder, egal, in welcher Lage er sich befindet, „Worte, die so auf ihn passen, als wären sie nur um seinetwillen so geschrieben“

Die Psalmen


Das Wort „Psalm“ geht zurück auf das altgriechische Verb „psállein“ , was so viel bedeutet

wie „die Saiten spielen“. Ein klarer Verweis auf den Liedcharakter

der Gebete, der bei der Übersetzung der hebräischen Bibel in die grie-

chische Septuaginta im dritten Jahrhundert vor Christus berücksichtigt wurde. In der hebräischen Tradition wird das Buch „sefer tehillim“

() genannt, was Preis- oder Loblieder bedeutet.

Der Redakteur und Moderator
Korbinian Bauer
Münchner Kirchenradio
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