Eine Schule fürs Leben

Die Bibel vermittelt kulturelle Bildung und noch viel mehr

Unser Chefreporter Alois Bierl liest seit knapp einem Jahr die Bibel von vorne bis hinten. Was hat er dadurch gelernt? Wie hat ihn die Lektüre verändert und weitergebildet?

Gemälde Susanna und die Ältesten, ca. 1608, vom flämischen Maler Peter Paul Rubens (1577-1640 © imago images - Kena Images

Die Bibel öffnet die Augen: Als ich neulich ein Bild von Peter Paul Rubens gesehen habe, ist mir das wieder klar geworden. Er hat die berühmte Geschichte von der nackten Susanna im Bade gemalt. Zwei alte Richter, beobachten sie dabei und wollen die ebenso schöne wie anständige Frau erpressen. Ist sie ihnen nicht zu Willen, dann machen sie Skandal. Sie werden die Frau des Ehebruchs mit einem jungen Mann beschuldigen, der nie stattgefunden hat. Wenn sie beide als Zeugen auftreten, wird ihnen das Gericht schon allein aufgrund ihres gesellschaftlichen Ansehens glauben und das Todesurteil für Susanna ist sicher. Übereinstimmend werden sie beschwören, die Ehebrecher unter einem Baum auf frischer Tat ertappt zu haben. Susanna weigert sich trotzdem, sich von den beiden vergewaltigen zu lassen und wird verurteilt.

Eine Me-too-Geschichte aus dem Alten Testament, das war mir bei Bildern zu dieser Geschichte schon immer bewusst, die Maler gerne und häufig dargestellt haben. Auch dass sie irgendwo bei den Propheten stehen musste. Warum Rubens aber einen Baum so auffällig in der Bildmitte platziert, wäre mir nicht klar gewesen, hätte ich nicht gerade das Buch Daniel gelesen. Der Baum ist entscheidend für die Aufklärung der Verleumdung. Daniel schafft es, die beiden Richter noch einmal zu verhören, als die Frau schon auf dem Weg zur Hinrichtung ist. Er fragt die alten Herren getrennt voneinander, unter welchem Baum sie denn die Ehebrecher ertappt hätten. Der eine antwortet unter einer Eiche, der andere unter einem Mastixbaum. So sind die beiden Verleumder überführt und müssen selbst dran glauben. Wer die Geschichte aus dem Alten Testament (Daniel 13) nicht kennt, steht ratlos vor dem Bild und wer sie nur oberflächlich kennt, kann es nicht vollständig lesen.

Ohne Bibel ist vieles in unserer Kultur nicht zu verstehen. Das muss noch nicht einmal eine Spezialgeschichte wie über Susanna im Bade sein. Wer nie von der Bibel gehört hat, dem müssen etwa Darstellungen eines Mannes, der an ein Kreuz genagelt ist oder von einer wilden Gruppe, die um ein die goldene Figur eines Kalbes tanzt, völlig unverständlich bleiben. Gelernte Christen genauso wie areligiöse Bildungsbürger können sich kaum vorstellen, dass das jemand nicht weiß. Doch dafür muss jede Generation dieses Bildungsgut an die nächste weitergeben. In einer pluralen und zunehmend entchristlichten Gesellschaft ist das keine Selbstverständlichkeit mehr. Ein weitgehender Verlust beträfe nicht nur ein paar Kunstfreunde, sondern die ganze Gesellschaft, für deren Zusammenleben die Bibel eine entscheidende Grundlage ist. Verschwände sie, wäre das nicht allein eine Verarmung an Wissen, sondern auch an Gefühlen und Spiritualität.

Die Bibel öffnet Herz und Mund

An mir selbst merke ich, wie viel mir entginge, wenn mich die Bibel nicht immer wieder gestreift und mich neugierig gemacht hätte, sie genauer kennenzulernen. Darum lese ich sie gerade wortwörtlich von vorn bis hinten. Trotzdem ich jeden Sonntag im Gottesdienst ein Stück daraus höre, wundere ich mich immer wieder, wie wenig sie mir vertraut war. In die Tiefe gehen die einzelnen Verse, Namen oder Episoden aus dem Alten und Neuen Testament eben erst, wenn ich sie im Zusammenhang und immer wieder lese. Es müssen ja nicht gleich alle 73 Schriften des katholischen Bibelkanons auf einmal sein.

Ist mir eine Geschichte wie von Susanna und ihren Verleumdern vertraut, öffnet sie mir die Augen nicht nur für ein vierhundert Jahre altes Rubens-Bild. Sie ist dramatisch aktuell: War da nicht etwas mit Fake News, alternativen Fakten, gefälschten Informationen und Verleumdungskampagnen im Internet? Da ist mir Daniel 13 in die Knochen gefahren: als Warnung, nicht alles hinzunehmen, was scheinbar gut und sogar von Autoritäten bezeugt wird. Die Geschichte berührt zudem, wie fast alles in der Bibel, mein Gemüt. Sie erzählt von der Niedertracht gegen einen hilflosen Menschen, einer zügellosen Gier, und mein Gerechtigkeitssinn ist empört. Sie spendet mir aber auch Trost. In dem Moment als alles hoffnungslos verloren scheint, „erweckte Gott den Heiligen Geist in einem jungen Mann namens Daniel“.

Eine Schule fürs Leben

Ein anderer Mensch tritt inspiriert für den anderen ein, damit Gerechtigkeit kommt, dem großen Thema der Bibel. Wenn ich darin lese, geht mir auf, welche Schlüsselmomente sie für mein Weltverständnis enthält.  Die Bibel hilft mir sogar dabei, sie selbst kritisch zu lesen. Denn ihren Gerechtigkeitsanspruch muss ich auch über die vielen Stellen legen, an denen ihre Autoren hemmungslose Gewalt und Eroberungskriege gutheißen. „Die Widersprüche sind die Hoffnungen“, hat Bertolt Brecht einmal geschrieben, übrigens ein lebenslanger und sehr genauer Bibelleser, die seine poetischen Bilder und sogar seinen Satzbau geprägt hat. Bei ihm wie in der gesamten Weltliteratur klingen immer wieder die Psalmen an. Nachdem ich sie nun alle gelesen habe, verstehe ich noch besser, warum:  weil sie Leid und Freude eine einzigartige Sprache geben, Widersprüche aushalten. Besonders wenn Menschen nicht mehr können und klagen müssen, mit Gott hadern und gleichzeitig seinen Schutz erflehen und auch spüren. Die Psalmen in meiner Bibel sind jedenfalls voller roter Anstreichungen.  Für den Fall, dass mich etwas unerträglich niederdrückt und ich dann Worte brauche, die es mir selbst in einem solchen Moment verschlägt. Die Bibel öffnet nicht nur die Augen, sondern auch das Herz und den Mund. Sie gehört nicht nur zum Bildungskanon, sie ist eine Schule fürs Leben, weil sie so viel darüber weiß.

Der Autor
Alois Bierl
Chefreporter Sankt Michaelsbund
a.bierl@michaelsbund.de