Grenzen des Lebens

An den unergründlichen Grenzen des Mensch-Seins

Wann das menschliche Leben beginnt und wann es endet, kann nicht eindeutig gemessen oder abschließend festgelegt werden. Die Antwort auf diese Frage ist auch von kulturellen Faktoren und technologischen Möglichkeiten abhängig und muss immer wieder neu verhandelt werden.

Die „Säulen der Schöpfung“ sind eine Formation in einem weit entfernten Sternennebel. Allein die links abgebildete Säule hat eine Höhe von vier Lichtjahren, das sind fast 40.000.000.000.000 Kilometer. © AdobeStock/Alexandr Yurtchenko

Seit Jahrzehnten erleben wir einen rasanten Fortschritt in der Medizin. Dabei werden die Grenzen menschlichen Lebens weiter und weiter ausgedehnt. Mit neuen Therapieverfahren wird nicht nur der Tod immer weiter aufgeschoben, medizinisch wird längst auch auf den Anfang des Lebens ausgegriffen. Es können immer jüngere Frühchen am Leben erhalten, Therapien bereits im Mutterleib begonnen, Embryonen in der Petrischale erzeugt und Menschen eigene Kinder ermöglicht werden, die davon bis vor Kurzem nicht einmal hätten träumen können: etwa Frauen, denen die Gebärmutter entfernt wurde.

Immer aufs Neue entzünden sich ethische Debatten an den technischen Möglichkeiten, ins Leben einzugreifen und neue Formen des Mensch-Seins hervorzubringen. In den letzten Jahrzehnten ging es unter anderem ums Klonen, den Hirntod, vorgeburtliche Diagnostik, künstliche Befruchtung. Aktuell wird mit Blick auf den Lebensanfang in vielen westlichen Gesellschaften neben der Eizellspende und der Leihmutterschaft auch um bestimmte Formen der vorgeburtlichen Selektion von Embryonen aus künstlicher Befruchtung gerungen. In Deutschland findet sich ein Vorstoß zu ihrer Legalisierung im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung.

Die Frage nach dem Beginn und Ende des menschlichen Lebens

Am Lebensende wird gegenwärtig über Sterbehilfe diskutiert. Im Hintergrund stehen Situationen eines Sterbens auf Intensivstationen: eines Sterbens, das stark herausgezögert werden kann und das von manchen Betroffenen als nicht mehr lebenswert erfahren wird. Angestoßen wurde die Debatte über Sterbehilfe vom Bundesverfassungsgericht. Dieses hat 2020 in einer Grundsatzentscheidung erklärt: Die Entscheidung, wie aus dem Leben geschieden wird, falle unter die persönlichen Freiheitsrechte; das Persönlichkeitsrecht auf selbstbestimmtes Sterben umfasse auch das Recht auf Selbsttötung und auf Hilfe beim Suizid. In all diesen Diskussionen begegnet man der Fraglichkeit des Anfangs und Endes menschlichen Lebens. Geburt und Tod haben für viele Menschen ihre Eindeutigkeit verloren: Ab wann und bis wann begegnen wir jemandem und nicht etwas? Bis zu welchem Stadium gehen Labormitarbeiter nur mit Gewebsbündeln um, die sie vernichten dürfen – und ab wann mit menschlichen Embryonen, die Anspruch auf Schutz haben? Bis wann haben wir mit lebendigen Menschen zu tun – und ab wann mit Leichnamen, denen straffrei lebenswichtige Organe entnommen werden dürfen? In all dem geht es darum, wen wir zum Kreis lebendiger Menschen rechnen. Dabei mischen sich in Erfahrungen der Ungewissheit Erfahrungen der Gefähr- dung: Hängen doch an der Zugehörigkeit zum Kreis der Menschen das Tötungsverbot und besondere Schutzrechte.

Angesichts der Komplexität und Folgenschwere der skizzierten ethischen Probleme scheint es nahezuliegen, Eindeutigkeit zu verlangen: objektive Kriterien. Aufschluss mag man sich zunächst von der Biologie erhoffen. Die Biologie denkt allerdings in Prozessen. In Bezug auf den Lebensanfang bedeutet das: die Evolutionsbiologie kann zwar angeben, in welchen Stadien der Embryonalentwicklung welche Organe entstehen und welche Lebensfunktionen ausgeübt werden. Darin ist jedoch nichts darüber gesagt, wann Leben oder gar genuin menschliches Leben beginnt. Mit der Verschmelzung von Eizelle und Spermium? Wenn das Herz zu schlagen beginnt? Wenn das Kind außerhalb des Mutterleibes lebensfähig ist? Analoge Probleme lassen sich am Lebensende aufzeigen. Wiederum lässt sich empirisch feststellen, wann welche Lebensfunktionen aussetzen. Damit bleibt jedoch offen, wann menschliches Leben endet. Sind alle Menschen tot, deren Herz nicht mehr schlägt? Sind alle hirntoten Menschen tot – also auch Menschen, deren Herz unter künstlicher Beatmung noch schlägt, die noch rosig aussehen können, aber keine Hirnaktivitäten mehr aufweisen?

Würde und Menschsein: Die Unergründlichkeit der Existenz

Da die biologischen Prozesse nicht für sich sprechen, scheint Wissen über die menschliche Lebensform vonnöten zu sein: ein allgemeines Kriterium, das Dasein zu genuin menschlichem Leben formt. Wenn man die zentralen Merkmale menschlichen Lebens kennt, dann lassen sich trennscharfe Grenzen ziehen: zwischen dem Dasein von etwas, das wir gebrauchen dürfen, und dem Leben von jemandem, der uns in die Pflicht nimmt, an unseren Schutz appelliert. Mit diesen Fragen ist der Schritt in die philosophische Anthropologie gemacht. Das Problem besteht nun allerdings darin, dass seit den griechischen Anfängen der europäischen Philosophie vor gut 2.500 Jahren keine Einigkeit über diese Fragen erreicht werden konnte. Man kann sich noch nicht einmal darüber einigen, wonach genau zu fragen ist: nach bestimmten Sondereigenschaften oder nach der genuinen Lebensform von Menschen, nach besonderen Formen der Begegnung zwischen Menschen? Werden Lebewesen durch die Fähigkeit zu Selbstbewusstsein zu Menschen – und das hieße: etwa mit zwei Jahren? Und verlieren sie ihr Menschsein zusammen mit der Fähigkeit zu Selbstbewusstsein, wenn sie etwa an schwerer Demenz erkranken? Dies hätte weitreichende ethische Konsequenzen für die Tötungserlaubnis von Säuglingen und Demenzkranken. Oder sind alle Abkömmlinge von Menschen sofort Menschen?

Es ist nicht verwunderlich, dass in diesen Fragen bisher kein Konsens gefunden wurde. Auch ist kaum vorstellbar, dass man sich in der Philosophie je darüber einigen wird, was Menschen zu Menschen macht. Dies liegt nicht allein an der Streitlust vieler Philosophinnen und Philosophen. Es hat seinen Grund vielmehr in der Sache selbst. Fragen nach dem menschlichen Leben sind metaphysische Fragen nach dem „Ganzen“ unserer Existenz. Um objektives Wissen zur Beantwortung dieser Frage zu gewinnen, müsste man das Mensch-Sein überblicken können: in all seinen vielfältigen Erscheinungen. Solch ein göttlicher Erkenntnisstandpunkt ist der Philosophie jedoch entzogen. Inmitten der Zeit können immer nur Deutungen, Interpretationen erreicht werden. Solche kulturellen Menschenbilder sind nicht nur gefärbt, sondern stehen auch in Konkurrenz mit anderen Menschenbildern.

Die Schlange beißt sich in den Schwanz. Ethische Haltungen eines guten Umgangs mit Menschen in Grenzsituationen des Lebens sind von Menschenbildern durchdrungen: von Auffassungen, was Dasein zu lebendigem beziehungsweise genuin menschlichem Dasein macht. Und umgekehrt entscheiden historische Menschenbilder darüber mit, welches Dasein überhaupt als menschliches Leben erfahren und behandelt wird. In all den skizzierten Ungewissheiten und Fraglichkeiten tritt das Geheimnis oder die „Unergründlichkeit“ der menschlichen Natur hervor, wie der Philosoph Helmuth Plessner vor hundert Jahren geschrieben hat. Mit der menschlichen Unergründlichkeit hängt die Würde eines jeden Einzelnen zusammen: individuell weder durch die menschliche Biologie noch durch kulturelle Rollenbilder festgelegt, sondern freigesetzt zu werden, als besonderes einzigartiges Individuum in Erscheinung zu treten.

Rechtliche und ethische Fragen an den Grenzen des Lebens

Im Verhältnis zu den Grenzen menschlichen Lebens gilt es, der menschlichen Unergründlichkeit Genüge zu tun. Das meint nicht, sich in ein unverbindliches Vielleicht zu flüchten: vielleicht schon, vielleicht noch ein Mensch, vielleicht noch nicht, nicht mehr. Theoretisch mag Unverbindlichkeit eine Option sein, praktisch ist sie es nicht. In praktischer – insbesondere: in rechtlicher – Hinsicht gilt es ja zu entscheiden, ab wann und bis wann Menschen einklagbare Schutz- und Hilfsrechte haben: bis wann Außenstehende Gewebsstrukturen straffrei vernichten und ab wann sie Leichnamen lebenswichtige Organe entnehmen dürfen – und wann sie der Ermordung eines Menschen anzuklagen sind.

Der Unergründlichkeit menschlichen Lebens Genüge zu tun, heißt: um den provisorischen Status solcher kulturellen Festlegungen zu wissen. Gerade da wir kein abschließendes Wissen über unser Mensch-Sein haben, sollten wir irritierbar bleiben. Dazu gehört nicht nur: möglichst viele Perspektiven zu hören, nach Wissen zu streben und etablierte Annahmen im Lichte neuer Erkenntnisse immer zu überprüfen – anstatt menschliches Leben voreilig auf bestimmte Aspekte festzulegen und allzu sicher zu verkünden, wann es anfängt oder aufhört. Dazu gehört vor allem auch: offen zu bleiben für unerwartete individuelle Formen des Mensch-Seins. Gerade an Grenzen zwischen Leben und Tod steht viel auf dem Spiel: die Entrechtung, Verachtung und Entwürdigung besonderer Menschen. (Olivia Mitscherlich-Schönherr, Dozentin für Philosophische Anthropologie unter besonderer Berücksichtigung der Grenzfragen menschlichen Lebens)