Einsamkeit überwinden

Anselm Grün rät dazu, Alleinsein als Chance zu sehen

Der Münsterschwarzacher Benediktiner und Autor hat ein Buch darüber geschrieben, wie sich gut mit Einsamkeitsgefühlen umgehen lässt.

Pater Anselm Grün gibt in seinem neuste Buch Tipps,wie Einsamkeit zu einer guten Zeit gestaltet werden kann. Zeit in der Natur nennt er als eine Möglichkeit. © Gaurav Aryal - stock.adiobe.com

Fühlen Sie sich oft einsam? Dann sind Sie nicht allein. Etwa jedem vierten Deutschen geht es so. Das haben Forschungen ergeben, die Anselm Grün in seinem neuen Buch „Von der Kunst, allein zu sein“ zitiert. Der Münsterschwarzacher Benediktiner hebt darin bewusst die positiven Aspekte des Alleinseins hervor und zeigt auf, wie sich gut mit Einsamkeitsgefühlen umgehen lässt.

Grün zufolge haben diese häufig ihre Ursache in der Kindheit oder sogar schon im Mutterleib, etwa wenn Menschen früh allein gelassen wurden. Aber der Ordensmann ist überzeugt: „Ganz gleich, wie die Kindheit war, irgendwann müssen wir uns damit aussöhnen und die Verletzungen und Defizite bearbeiten. Sonst werden wir die alten Situationen von Alleingelassensein und Einsamkeit wiederholen.“

Einsamkeit bedeutet Stress

Der Autor gibt jedoch offen zu: „Sich mit der Einsamkeit anzufreunden, fällt nicht jedem leicht – gerade dann nicht, wenn man sich die Einsamkeit nicht selbst ausgesucht hat, sondern durch äußere Umstände dazu gezwungen wird. Eine solche erzwungene Einsamkeit führt daher bei vielen Menschentatsächlich zur Vereinsamung.“ Diese Gefahr habe gerade während der Corona-Pandemie noch zugenommen, vor allem bei älteren Menschen.

Diese Entwicklung alarmiere auch die Ärzte. So habe im Juli 2020 im Deutschen Ärzteblatt gestanden, Vereinsamung sei „gleichbedeutend mit permanentem Stress. Im Vergleich zu nicht einsamen Menschen schlafen einsame schlechter und können sich weniger gut erholen. Sie ernähren sich außerdem ungesünder, konsumieren mehr Alkohol und Zigaretten und bewegen sich weniger. Darüber hinaus leiden sie häufiger unter Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Depressionen, klagen über ein verringertes Wohlbefinden und über eine schlechte Lebensqualität, haben ein geschwächtes Immunsystem, mehr Suizidgedanken und sterben früher.“

Rituale helfen Zeit zu strukturieren

Neben verstärkenden äußeren Faktoren habe Vereinsamung aber „immer auch innere Ursachen“, ist Grün überzeugt. Und auf diese könnten Betroffene Einfluss nehmen: „Von allein wird die Einsamkeit nicht zu einer guten Zeit. Ich muss etwas tun.“ Der Benediktiner zeigt hierfür verschiedene Möglichkeiten auf: Als Erstes empfiehlt er, die zur Verfügung stehende Zeit zu strukturieren. So könne man sich vor einem Abend,  den man allein verbringen werde, fragen: „Was möchte ich tun? Wie kann ich ihn gestalten?“ Wichtig sei dabei das Gefühl: „Das ist mein Abend, meine Zeit. Ich gestalte ihn so, wie es mir guttut.“

Entsprechendes rät der Geistliche vor einem Wochenende: „Ich muss am Freitagabend oder auch schon früher in mich hineinhören: Was brauchen meine Seele und mein Leib? Worauf könnte ich mich am Wochenende freuen? Wie möchte ich es gestalten?“ Hilfreich sei eine gute Planung: „Wann stehe ich auf? Was habe ich am Samstag noch zu erledigen an Arbeiten im Haus oder Garten? Wie lange möchte ich arbeiten? Und was mache ich mit der freien Zeit? Lädt das Wetter zum Fahrradfahren oder zu einer kleinen Wanderung ein?“ Auch den Sonntag gelte es zu planen. Grün schlägt für den Vormittag vor, einen Gottesdienst zu besuchen: „Da bin ich unter Menschen, fühle mich getragen und angesprochen.“ Eine Möglichkeit, die Zeit zu strukturieren, seien Rituale. Gerade alleinstehende ältere Menschen bräuchten diese als Alltagshilfen, weiß der 78-Jährige. Als Beispiel führt er seine eigene Mutter an: „Meine Mutter hat nach dem Tod meines Vaters fast dreißig Jahre allein gelebt. Aber es wurde ihr nie langweilig, weil sie ihre feste Wochenstruktur hatte.“ So habe sie am Sonntagnachmittag nach dem Kirchgang lange mit ihrer Schwester, einer Ordensfrau, telefoniert. „Das war ihr festes Ritual am Sonntagnachmittag.“

Einsamkeit vor Gott bringen

Solche Rituale schüfen Heimat. Die ständige Wiederholung des immer Gleichen ermögliche einen Raum der Geborgenheit. Es sei daher gut, sich zu überlegen: „Wie möchte ich den Morgen beginnen und den Abend beschließen? Soll ich mich jeweils 20 Minuten hinsetzen und auf den Atem achten und meditieren? Oder ist es meine Form, einen Text der Bibel zu lesen, darüber nachzudenken und auf die Gedanken und Bilder zu achten, die der Text in mir auslöst? Oder soll ich lieber eine Gebärde ausführen, die mich für Gott öffnet?“

Als Abendritual lädt Grün dazu ein, Gott die Hände in Form einer Schale hinzuhalten: „Ich halte Gott hin, was ich heute in die Hand genommen habe, ich halte die Menschen hin, denen ich die Hand gegeben, die ich berührt habe. Und ich halte ihm auch meine Leere hin. Manchmal haben wir den Eindruck, dass uns der Tag zwischen den Fingern zerronnen ist. Dann halte ich diesen zerronnenen Tag, diesen an mir vorbeigegangenen, zerstückelten, brüchigen Tag Gott hin. Auf diese Weise wird er zu meinem Tag, bekommt er am Ende noch eine Gestalt. Und so kann ich ihn in Gottes Hände fallen lassen und mich dann in seinen guten Händen bergen und mich von ihnen getragen wissen.“

Zeit mit Aktivitäten füllen

Die Zeitstruktur und die Rituale stecken gleichsam den äußeren Rahmen für die allein verbrachte Zeit ab. Grün geht aber auch ausführlich auf sechs mögliche Aktivitäten – und das Nichtstun – ein, mit denen diese Zeit gefüllt werden kann. Eine Gestaltungsmöglichkeit ist das Wandern: „Auch das einsame Wandern hat seine Reize. Ich bin dann ganz in der Natur, fühle mich ihr zugehörig. Ich nehme mit allen Sinnen die Natur wahr: Ich spüre die Sonne, die mich bescheint, den Wind, der mich umweht. Ich höre auf das sanfte Rauschen des Windes, auf das fröhliche Vogelgezwitscher. Ich atme tief die frische Luft ein. Ich rieche den Wald, die Wiese, ich rieche den Frühling, den Sommer, den Herbst, den Winter. Ich fühle mich lebendig. Und ich spüre Gottes Gegenwart, die die Natur durchdringt. “

Mit dem Kreativ-Sein befasst sich ebenfalls ein eigenes Kapitel des Buchs: „Wenn jemand in seinem kreativen Tun aufgeht, dann fühlt er sich nicht allein. Er spürt das Leben in sich. Er gibt sich ganz dem hin, was er tut. Das hält ihn lebendig und erfüllt ihn mit Freude. Dann leidet er nicht an seiner Einsamkeit. Sein Alleinsein wird vielmehr zu einer Quelle der Freude.“ So kennt der Autor ältere Frauen, die ihre einsamen Abende mit Handarbeiten verbringen: „Sie stricken Socken oder Pullover, häkeln kleine Tischdecken oder Servietten und verschenken sie dann. Das ist auch eine schöne Art, das Alleinsein fruchtbar zu machen.“

Durch Einsamkeit offen werden für Gott

Ein weiterer Abschnitt des Buchs widmet sich dem Lesen: „Wenn ich lese und mit den Personen mitempfinde, bin ich nicht allein. Dann werde ich eins mit der ganzen Welt. Und die enge Welt meiner kleinen Wohnung weitet sich“, heißt es darin. Und im Kapitel über das Musikhören schlägt Grün vor: „Statt über den einsamen Abend zu jammern, könnte ich ihn nutzen, nach und nach die Musik zu hören, die meiner Seele guttut.“ Für den Mönch hat Musik stets eine spirituelle Bedeutung: „Die Musik erhebt mich innerlich. … Sie öffnet mich für Gott.“

„Eine gute Weise, die Zeit, die ich allein für mich habe, zu nutzen, ist die Meditation.“ Mit diesen Worten beginnt das Kapitel über das Meditieren. Überhaupt ist die Einsamkeit Grün zufolge das Einfallstor für Gott schlechthin: „Offensichtlich ist die Einsamkeit wichtig, um offen zu werden für Gott. In ihr begegne ich meiner eigenen Wahrheit. Und nur, wer seiner Wahrheit begegnet, kann auch Gott begegnen.“

Einsamkeit als Quelle erleben

Abschließend schreibt Grün: „Wie wir das Alleinsein und unsere mit unserem Personsein notwendig verbundene Einsamkeit erleben, das liegt an uns. Wir haben es in der Hand, darüber zu jammern und uns dadurch immer weiter nach unten ziehen zu lassen, oder aber das Alleinsein als Chance zu sehen, eins zu sein mit uns selbst, mit allem, was ist – mit Gott, mit allen Menschen und mit der ganzen Schöpfung. Wir haben es in der Hand, in der Rebellion gegen die Einsamkeit zu verharren und auf diese Weise zu vereinsamen oder aber unsere Einsamkeit als Quelle zu erleben, aus der wir schöpfen können. Dann werden wir sie als etwas Kostbares erfahren, als etwas, das uns mit dem Reichtum der eigenen Seele in Berührung bringt.“ Zugleich rät der Seelsorger, sich zu fragen: „Ist es jetzt gut für mich, das Alleinsein auszuhalten und zu gestalten? Oder ist es besser, zum Telefonhörer zu greifen und Menschen anzurufen?“ Computer und Smartphone ließen sich noch ergänzen.

Buchtipp

Grün, Anselm: Von der Kunst, allein zu sein

Viele Menschen haben Angst vor dem Alleinsein, weil sie sich dann einsam und isoliert fühlen. Es kann jedoch auch zum Segen werden, denn ohne Alleinsein gibt es keine ehrliche Selbsterkenntnis und es gehört zudem wesentlich zu jedem spirituellen Weg

18 € inkl. MwSt.

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Die Autorin
Karin Hammermaier
Münchner Kirchenzeitung
k.hammermaier@michaelsbund.de