Halt im Glauben finden

Wir können nicht verloren gehen

Zum Monat der Spiritualität lädt Pfarrer Daniel Lerch ein zu überlgen, wie die Wunden des Lebens helfen können, neue Kraft zu schöpfen. Er ist überzeugt: Gott teilt die Wunden der Menschen.

Glaube kann Kraft in schwierigen Situationen geben. © BillionPhotos.com - stock.adobe.com

Um das Leben des heiligen Bischofs Martin von Tours, dessen Gedenktag wir am 11. November begingen, ranken sich etliche Erzählungen und Legenden. Zu den bekanntesten gehören die Mantelteilung am Stadttor von Amiens oder auch die Legende von den schnatternden Gänsen, die ihn verraten, als er sich vor den Menschen verstecken wollte, um der Bischofswürde zu entfliehen. Die folgende Legende ist viel weniger bekannt, aber umso tiefgehender:

Einmal wollte sich der Teufel dem heiligen Martin als Halt anbieten. Er erschien ihm als König in majestätischer Pracht. Er sagte: „Martin, ich danke dir für deine Treue. Du sollst erfahren, dass auch ich dir treu bin. Du sollst jetzt immer meine Nähe spüren! Du kannst dich an mir festhalten!“ Da fragte Martin zurück: „Wer bist du eigentlich?“. „Ich bin Jesus, der Christus!“ antwortete der Teufel. „Wo sind denn deine Wunden?“, fragte Martin weiter. „Ich komme aus der Herrlichkeit des Himmels und da gibt es keine Wunden mehr!“, gab der Teufel zurück. Darauf entgegnete ihm Martin: „Den Christus, der keine Wunden hat, den mag ich nicht sehen. An dem Christus, der nicht die Zeichen des Kreuzes trägt, kann ich mich nicht festhalten!“

Gott teilt unser Leben

Mir gefällt diese Legende: Sie erzählt davon, dass wir keinen weltabgehobenen oder weltfremden Gott haben, sondern einen, der unser Leben teilt. Mehr noch: Dieser Gott weiß auch um Schmerz, Leid, Klage, Trauer, Sinnlosigkeit und die Wunden der Menschen. All das Schwere und Belastende unseres Lebens teilt er mit uns in Jesus Christus.

Menschen in Krankheit und Krise stehen oft vor einer grundlegenden Erschütterung ihres Lebens. Als Klinikpfarrer habe ich das Tag für Tag erlebt. Verluste und Brüche, schwerwiegende Diagnosen und Enttäuschungen können alles bisher Selbstverständliche infrage stellen und den Menschen existentiell herausfordern. Wenn ich Menschen begegne, die schwer erkrankt sind, steht nicht unbedingt der christliche Glaube im Mittelpunkt unserer Unterhaltung. Aber sehr häufig kommen wir ins Gespräch über die eigenen Kraftquellen, die es trotz oder gerade wegen der augenblicklichen Situation zu entdecken gilt.

Die eigenen spirituellen Wurzeln

Die Wunde der Krankheit zu verleugnen hilft nicht weiter. Vielmehr gilt es sich der eigenen Verletzlichkeit und Verunsicherung zu stellen und herauszufinden, welche Möglichkeiten ich sehe und über welche Ressourcen ich – heute – angesichts meiner augenblicklichen Situation verfüge. Genau jetzt stellt sich die Frage nach den eigenen spirituellen Wurzeln. Was gibt mir Halt? Was gibt meinem Leben Sinn? Was heißt es für mich überhaupt zu leben? Wo spüre ich in mir noch Vitalität und Lebendigkeit trotz der Krankheit? Woraus kann ich noch Kraft, Freude und Hoffnung schöpfen? Auf der Suche nach den eigenen Kraftquellen entdecken dann viele Menschen, dass der Glaube an einen Gott, der selbst durch das Leid und den Tod hindurchgegangen ist, Halt verleihen kann.

Unser Gott versteckt seine Wunden nicht. Er verspricht uns kein Leben, das frei wäre von Schwächen, Fehlern und Wunden. Mit solch einem makellosen Leben blendet in der Tat nur der Versucher. Der Gott, der Wunden trägt, zeigt uns vielmehr, wie das Leben gelingen kann inmitten aller Einschränkungen und Unvollkommenheiten.

Für die kalte Jahreszeit, insbesondere in Zeiten der Corona-Pandemie, ist es wichtig, ein gutes Immunsystem zu haben, und jeder hat so seine eigene Strategie dafür: kalt duschen, Sauna, Sport, Vitamine. Doch neben dem äußeren Immunsystem brauchen wir auch ein gutes inneres Immunsystem, um Krisen bestehen zu können. Der Monat der Spiritualität lädt dazu ein, sich auf die Suche nach dem zu machen, was dem eigenen Leben diesen inneren Halt verleiht. Und dabei kann den Wunden des eigenen Lebens eine besondere Bedeutung zukommen.

Stabilität und Flexibilität

Heutzutage ist in diesem Zusammenhang viel von „Resilienz“ die Rede. Mit Resilienz meinen Wissenschaftler die psychische Widerstandskraft und die Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen zu überstehen. Als resilient bezeichnet man zum Beispiel auch ein Gummi, das nach extremer Anspannung wieder in seine ursprüngliche Form zurückschnellt. Eine schwere Erkrankung stellt eine solche Situation der extremen Anspannung dar. Genauso wie das Zerbrechen einer Beziehung oder der Verlust von Sicherheiten wie dem Arbeitsplatz oder gesicherten Einkünften. Dann braucht es nicht nur Stabilität, sondern auch Flexibilität, um auf belastende Situationen gut reagieren zu können.

Der christliche Glaube fördert beides: Zum einen lässt er in uns das Vertrauen wachsen, dass wir nicht verloren gehen können. Auch in der größten Bedrohung, im Angesicht von Krankheit und Ruin, ja selbst im Sterben und Tod können wir nicht tiefer fallen als in die Hände Gottes. Das zeigt sich auch, wenn wir in die Bibel schauen: Dort finden wir Gestalten wie Hiob oder Jeremia, die nach weltlichen Maßstäben alles verloren haben, was zählt: Besitz, Ansehen und Gesundheit. Dennoch wirken sie innerlich vollkommen gefestigt: Wer auf Gott vertraut, geht nicht zugrunde. Gottvertrauen wird als Schlüssel für Krisenbewältigung verstanden und als Kraft erfahren, um Schweres durchzustehen. „Auch wenn ich gehe im finsteren Tal, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir“ betet König David im Psalm 23.

Die Erfahrung, dass Gott auch in der Krise bei mir ist, gibt dem Leben eine tiefe Verankerung. Menschen, denen das bewusst ist, ruhen in Gott und finden so wieder zur Balance in ihrem Leben. Wer sein Vertrauen auf Gott setzt, weiß sich in schweren Zeiten geborgen. Gott ist der Fels in der Brandung, den nichts erschüttern kann.

Am Ende wird alles gut

Zum anderen fördert der Glaube aber auch die Anpassungsfähigkeit an die jeweilige Situation. Denn wer der Tragfähigkeit des Bodens vertraut, auf dem er steht, der kann auch mal Dinge loslassen, die lieb und teuer geworden sind. Wenn wir uns von Gott getragen fühlen, können wir gelassen mit der Situation umgehen. Bei Oskar Wilde heißt es: „Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.“ Der Glaubende hat eben immer auch die eschatologische Perspektive im Blick und ist überzeugt, „dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll“ (Röm 8,18).

Das Leben verläuft nicht immer so, wie wir uns das vorstellen. Es ist geprägt von Erfolgen und Misserfolgen, von Gesundheit und Krankheit. Mit dem heiligen Martin kann ich aber sagen, dass die Wunden des auferstandenen Christus mein augenblickliches Leid nicht verleugnen, sondern es würdigen und ihm zugleich die Perspektive verleihen, dass es überstanden werden kann. Ja, mehr noch: Dass daraus etwas Fruchtbares und Heilsames erwachsen kann: „Deshalb seid ihr voll Freude, wenn es für kurze Zeit jetzt sein muss, dass ihr durch mancherlei Prüfungen betrübt werdet. Dadurch soll sich eure Standfestigkeit im Glauben, die kostbarer ist als Gold, das im Feuer geprüft wurde und doch vergänglich ist, herausstellen“ (1 Petr 1,6f.).

Vierzig Tage lang hat Jesus nach seiner Auferstehung seine Wunden gezeigt. Der Apostel Thomas musste sie erst sehen und berühren, bevor er glauben konnte. Jesus zeigt, dass er nicht nur die Wunden des Alltags mit uns teilt, sondern auch die größte Verwundung überhaupt: unsere Sterblichkeit und den unausweichlichen Tod. Im Totengedenkmonat November sind wir eingeladen, Kraft, Orientierung und Trost zu finden im Blick auf seine und die eigenen Wunden. (Daniel Lerch ist Pfarrer in den Pfarreien St. Peter und Heilig Geist in München. Zuvor war er Leiter der Klinikseelsorge am LMU Klinikum Innenstadt in München.)

Dieser Artikel gehört zum Schwerpunkt Monat der Spiritualität