Persönlicher Erfahrungsbericht

Wie eine Krebserkrankung das Leben verändert

Diagnose, Behandlung, Heilung? Wie seine Familie, der Glaube und Träume über geliebte Verstorbene ihn gestützt und begleitet haben, erzählt der Autor dieses berührenden Textes.

Der Glaube kann Halt in Krisen wie Krankheit geben. © ericsan - stock.adobe.com

Soll ich mir nun überhaupt noch neue Schuhe kaufen? Die alten halten noch ein paar Monate und im nächsten Jahr brauche ich vielleicht keine mehr, denn da könnte ich ja schon tot sein. Der Befund in der Radiologie ist schließlich beunruhigend. Ein Tumor im Magen, so groß wie eine Kokosnuss. Der Hausarzt hatte schon im Ultraschall eine größere „Raumforderung“ erkannt und mir binnen weiger Tage einen MRT-Termin verschafft. Die Radiologin wundert sich, dass mir nichts weh tut.

Mit dem Gedanken an die Schuhe sitze ich in der U-Bahn, um ins Büro zu fahren. Dort warten bis zum Abend noch jede Menge Aufgaben auf mich. Ich will mich jetzt nicht gehen lassen, meine gewohnte Ordnung haben und mich nicht kopflos treiben lassen. Am Abend gehe ich meine Gedanken und Gefühle durch und schlafe erstaunlich gut. Am anderen Morgen erzähle ich meiner Frau von dem Befund, gehe zum Hausarzt, der dafür sorgt, dass ich innerhalb von 14 Tagen eine umfassende Untersuchung in einer Spezialklinik bekomme.

Glück und Dankbarkeit

Das Gefühl der Dankbarkeit ist groß. Als schlichtes AOK-Mitglied so schnell und reibungslos behandelt zu werden, ist ja auch in Europa keine Selbstverständlichkeit. Da brauche ich gar nicht Rumänien oder Bulgarien zum Vergleich nehmen. Auch in Schweden oder England müssen Krebspatienten oft monatelang auf Untersuchungen oder Operationen warten. In Amerika kann eine Tumorerkrankung ganze Familien in den finanziellen Ruin treiben, selbst wenn der Patient krankenversichert ist.

Als ich im Klinikbett liege, kommt mir das immer wieder in den Sinn, wie viele Menschen sich jetzt um mich kümmern, dass ich ein ungeheures und unverdientes Glück habe in einem Land zu leben, in dem das Gesundheitssystem und Verwaltungen funktionieren. Das rührt mich so, dass ich in meinem Bett zu schluchzen anfange. Krankheit löst Tränen aus, überfallartig, hemmungslos. Jetzt und in den kommenden Monaten merke ich immer wieder, dass ich meine Gefühle nicht im Griff habe und das zu meiner Überraschung gar nicht schlimm finde. 

Die Untersuchung ergibt, dass der Tumor schrumpfen muss, damit die Chirurgen ihn operativ entfernen können. Denn er ist bedrohlich nahe an die anderen Organe heran – vielleicht auch schon festgewachsen. Ich bekomme drei Monate eine milder Chemotherapie in Tablettenform, die ich schlechter vertrage als andere Patienten. Danach wieder eine Generaluntersuchung vor dem geplanten Operationstermin. Der Tumor ist nicht sehr viel kleiner geworden, aber die Chirurgen halten es für verantwortlich ihn herauszuschneiden, ohne Leber, Milz und Herz zu treffen. Vielleicht müssen sie dabei aber den kompletten Magen entfernen. 

Werkzeugkasten mit erprobten Ritualen

Nach solchen Arztgesprächen bin ich immer froh, dass ich katholisch bin und mich aus einem geistlichen Werkzeugkasten mit erprobten und robusten Ritualen bedienen kann. Ich bete Rosenkränze, gehe regelmäßig zur Messe und auf Wallfahrten. Nachdenklich macht es mich, dass ich mich nie an einen Seelsorger in meiner Umgebung gewandt und um Begleitung gebeten habe. Sie klagen über ständige Gremiensitzungen, Dauerbürokratie und müssen gewaltige Veränderungen stemmen. Was sollen sie da mit mir anfangen? Ich habe schlicht die Befürchtung ihnen zur Last zu fallen, wenn ein Gespräch einmal länger als 20 Minuten dauern sollte. 

Auf einer kleinen Reise gehe ich dafür in einer anderen Stadt nach langer Zeit wieder einmal zur Beichte. Ganz klassisch in einem Beichtstuhl, durch ein Gitter vom Priester getrennt. Ich fühle mich dort geborgener und beschützter als in einem offenen „Aussprachezimmer“. Der Geistliche ist ein einfühlsamer Zuhörer, der mir nicht nur die Lossprechung erteilt, sondern mir sogar verspricht, für mich zu beten. Danach geht es mir so gut, dass ich mich sogar traue eine Nusscremetorte zu essen. Die vertrage ich wegen meines Medikaments eigentlich gar nicht mehr, aber an diesem Nachmittag bekommt sie mir.

Am Abend vor der Operation bitte ich den Klinikpfarrer um die Krankensalbung. Der Geistliche zeichnet mir mit Chrisam ein Kreuz auf die Stirn und sagt zum Schluss die Worte: „Gott ist morgen dabei.“ Mein Bauch und meine Brust werden ganz warm und meine Augen nass.

Von anderem getrennt

Die Operation verläuft dann unerwartet gut und einfach. Der Tumor lässt sich unkompliziert herauslösen, ist nur an wenigen Zentimetern mit der Magenwand verwachsen und vor allem hat er nicht gestreut, das stand zuvor keinesfalls fest. Der 30 Zentimeter lange Schnitt ging aber nicht allein durch die Bauchdecke. Er hat mich auch von anderem getrennt.

Ich nehme Streitereien oder Ärger im Alltag und im Büro nicht mehr so schwer und viel gelassener hin, versuche nicht mehr mit Gewalt an meine Leistungsgrenzen zu gehen. Ich fühle mich auch nicht mehr für alles Mögliche verantwortlich, wenn ich sehe, dass es andere gibt, die diese Verantwortung in stärkerem Maße tragen als ich. Teilweise sind auch Besuche und Nachfragen von Menschen ausgeblieben, die ich zumindest insgeheim erwartet habe, stille Loslösungen.

Lange habe ich allerdings nicht damit gehadert. Krankheit verändert und klärt Beziehungen. Manche menschlichen Verbindungen waren eben doch nicht so eng, wie ich mir gedacht oder eingebildet habe. In der Reha-Klinik bin ich Menschen begegnet, die unter viel dramatischeren Enttäuschungen zu leiden hatten. Es gab brustamputierte Patientinnen, die zu weinen begannen, wenn andere von der Treue ihrer Partner erzählten. Sie hatten nicht nur mit einer lebensbedrohlichen Krankheit, sondern auch mit einer Scheidung zu kämpfen: „Mein Mann hat den ganzen Krebsscheiß nicht mehr ausgehalten und ist jetzt mit einer anderen zusammen.“

Freunde im Himmel

Ich habe dagegen das Glück, aus einer Luxusperspektive auf abgekühlte Bekanntschaften und Freundschaften zu blicken. Habe eine Frau, die mich liebhat, auch wenn ich manchmal am Wochenende vor Erschöpfung mitten am Tag einschlafe, wo wir uns doch fest einen gemeinsamen Ausflug vorgenommen hatten. Die im Frühjahr für mich extra Spargel gekocht hat, weil ich den so gut vertrage. Unser ältester Sohn wollte ein lang geplantes Auslandssemester aufgeben, um vor und nach der Operation bei mir sein zu können. Meine Tochter hat mir die Hand auf ihren Bauch gelegt, damit ich das Kind spüren konnte, das sie mit ihrem Mann erwartete. Und unser jüngster Sohn hat seinen Neffen dann so stolz im Arm gehalten, dass ich wieder mit den Tränen zu kämpfen hatte. Meine Geschwister, die ich oft monatelang nicht sehe, sind mir wieder sehr nahe gekommen. Meine alten Eltern haben mich gefragt, ob sie mir „wenigstens“ mit Geld helfen könnten. Ich habe also nicht nur für ein funktionierendes Gesundheitssystem sehr dankbar zu sein.

Und ich habe gespürt, dass ich Freunde und Vertraute im Himmel habe. Ich habe oft von lieben Verstorbenen geträumt, die mit mir auf gewundenen Pfaden durch Felslandschaften und weite Ebenen gewandert sind. Eine dieser Toten hat mir geraten, neue Schuhe zu kaufen. Es waren Begegnungen im Schlaf, die mir viel Angst genommen haben, vor der Operation, aber auch vor einem möglichen tödlichen Ausgang der Krankheit. Oft wünsche ich mir: Hoffentlich haben die einsamen und verlassenen Kranken auch solche Freunde im Himmel.

Versöhnt, dankbar und vertrauend

Natürlich bin ich selbst noch lange nicht gesund. Ich muss noch auf einige Jahre hinaus Chemo-Tabletten schlucken, die an manchen Tagen in meinen Eingeweiden herumwühlen und mich plagen. Mal mehr, mal weniger. Und trotz guter Heilungschancen könnte der Tumor eines Tages wieder zurückkehren und mich das Leben kosten.

Dann brauche ich frische Luft und bedauere mich. Wenn ich mir allzu wehleidig vorkomme, denke ich an die anderen Tumorpatienten, die ich in der onkologischen Tagesklinik immer wieder sehe. Sie haben oft große Schmerzen hinter sich, manche werden daran ihr ganzes weiteres Leben leiden, das vielleicht nur noch ein paar Monate dauern wird. Ich schaue auf die neuen Schuhe, die ich mir gekauft habe, und schicke ein Stoßgebet für die Kranken und Sterbenden zu Gott. Und hoffe, dass mir die gesammelten Erfahrungen helfen, wenn ich eines Tages selbst meinen letzten Atemzug tue: versöhnt, dankbar und vertrauend. (Der Autor ist der Redaktion bekannt und wollte auf eigenen Wunsch hin anonym bleiben.)