Meinung
Abschied am Krankenbett

Sterbende begleiten ist tröstlich

Es ist ein Geschenk, Menschen in ihren letzten Stunden die Hand halten zu dürfen. MK-Chefredakteurin Susanne Hornberger hat zwei Menschen beim Sterben begleitet – Momente, die sie im Glauben bestärkt haben.

Chefredakteurin Susanne Hornberger erzählt über ihre Erfahrung mit der Begleitung Sterbender. © Jürgen Fälchle - stock.adobe.com

Diese Momente vergisst man nie. Einem Sterbenden in den letzten Stunden seines Lebens, vielleicht den wichtigsten Stunden seines Lebens, die Hand zu halten, die Stirn abzutupfen, durch die Haare streichen zu dürfen – sprich – ihn auf diesem unwiderruflich letzten Weg begleiten zu dürfen, ist ein Geschenk. Es öffnet die Augen – worum es wirklich geht im Leben, das Existentielle.

Vor allem aber geht es um Loslassen. Das gilt für beide, den Sterbenden genauso wie für den Begleitenden. Diese Momente haben mir die Augen geöffnet, sie haben mich auf das Wesentliche konzentrieren lassen und einen Raum eröffnet, der sich nicht in Paragraphen und wissenschaftliche Formeln pressen lässt, der nicht messbar ist – und mich genau darum im Glauben ungemein bestärkt hat.

Die Kunst des Loslassens

Krankheit, Sterben, Tod sind tabu. Im 21. Jahrhundert zählt nur, wer jung, gesund und produktiv ist – Schwächeln? Geht gar nicht. Und weil viele Menschen nicht wissen, wie sie mit Schwerkranken umgehen sollen, ziehen sie sich lieber zurück. Dabei kommt es gerade jetzt auf jeden an, auf jede Berührung, jedes Handhalten, gemeinsames Lachen, Schweigen... einfach nur da sein. Der Kranke sagt schon, was er benötigt oder wann etwas zu viel ist.

Menschen, die im Sterben liegen, reflektieren – ungeschminkt, gnadenlos. Sich und ihr Leben, ihr Verhalten. Und sie bereuen Dinge. Zumeist nicht diejenigen, die sie getan haben, sondern genau die, die sie nicht getan haben: Jemandem seine Liebe gestehen oder um eine große Liebe kämpfen, jemanden um Verzeihung bitten, einen anderen Beruf ausgeübt oder ein Haustier gekauft zu haben.

Diese Monate, Wochen und Tage verlangen allen alles ab. Demjenigen, der weiß, dass seine Zeit bald abgelaufen sein wird, und allen Verwandten und Freunden, die ihm zur Seite stehen. Es geht um füreinander da sein, um gelebte Nächstenliebe und letztlich auch um Loslassen. Etwas loslassen, gehen lassen klingt nach Schmerz, nach Trauer, nach Nicht-Zulassen-Können. Dabei kann Loslassen, einen Menschen gehen lassen für die „Zurückbleibenden“ etwas sehr Friedliches, ja Tröstendes sein.

Auf jemanden warten

Als Mama im März 2014 im Krankenhaus Bogenhausen im Sterben lag, konnten Papa und ich dabei sein, ganz in Ruhe, Hand halten, mit ihr reden. Ja, es war traurig, aber irgendwie auch schön. In diesen letzten Minuten die Hand zu halten, ihre Wangen zu streicheln. Zuvor hatte uns der Arzt erklärt, dass sie an diesem Tag sterben würde, er allerdings nicht sagen könne, wann der Zeitpunkt genau komme. Wir dürften natürlich die ganze Zeit bei ihr bleiben. Doch es ging schnell. Es war abzulesen am Apparat, der auch den Herzschlag anzeigt, der nun stetig abfiel. Sie hatte auf uns gewartet, wir sollten dabei sein, wenn sie ging.

Dass dies Sterbende tatsächlich machen, „auf jemanden warten, um sich zu verabschieden“, hatte mir Jahre zuvor bereits eine Intensivkrankenschwester im Klinikum Großhadern erzählt. Hier lag meine 94-jährige Großtante tagelang im Koma, weil sie als Fußgängerin von einem Auto überfahren worden war. Auch Tante Hilde würde auf jemanden warten, beurteilte die Schwester, da sie aufgrund ihrer schweren Verletzungen bereits längst hätte tot sein müssen. Doch sie hielt durch. Sie wartete also. Aber auf wen? Drei Tage später die Gewissheit: Sie hatte auf ihren Ur-Enkel gewartet. Der, 13 Jahre jung, hatte einen Besuch im Krankenhaus bislang erfolgreich vermeiden können. Doch nach der Aussage der Intensivschwester wurde ihm ein Abschiedsbesuch bei seiner Ur-Oma quasi befohlen. An diesem Tag, als ihr Ur-Enkel zu Besuch war, sah Tante Hilde anders aus. Fahler, eingefallener als in all den Tagen zuvor, die ich an ihrem Bett gesessen hatte.

Miterleben nimmt die Furcht

Nachdem der Teenager die Klinik verlassen hatte, ging es schnell. Ihr Gesicht ähnelte von Minute zu Minute mehr dem einer Toten. Plötzlich schaltete sich der Apparat ab, der die lebenswichtigen Funktionen überprüft. Ohne Grund. Das war all die Tage und Stunden zuvor nie passiert. Eine Krankenschwester schaltete ihn wieder an, doch kurz darauf ging er wieder aus. Ein Arzt betrat den Raum, und wieder ging der Apparat aus. Der Mediziner machte ihn nicht mehr an. Denn Tante Hilde war an der Schwelle. Wir alle konnten es spüren und fühlen.

Diese letzten Minuten eines Menschen begleiten zu dürfen, helfen dabei, Sterben als Teil des Lebens zu akzeptieren und vieles Unwichtige gelassener nehmen zu können. Und nicht zuletzt nimmt es einem die Angst vor dem eigenen Tod. Sterben ist ein Hinübergleiten in eine andere Welt, ins Jenseits. Die Furcht davor verfliegt, wenn man diese letzten Momente im Leben eines anderen erleben darf. Denn diese vergisst man nie.

Die Autorin
Susanne Hornberger
Münchner Kirchenzeitung
s.hornberger@michaelsbund.de

Dieser Artikel gehört zum Schwerpunkt Tod und Sterben