Umgang mit Putins Russland

Sozialethiker Vogt: "Wir waren jahrzehntelang blind"

Im Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz findet an der Ludwig-Maximilians-Universität München ein Symposium zu Prinzipien des nachhaltigen Friedens in Europa statt. Im Mittelpunkt steht dabei natürlich auch Russlands Krieg gegen die Ukraine. Professor Markus Vogt hält Waffenlieferungen an die Ukraine für ethisch geboten.

Nach Ansicht von Sozialethiker Markus Vogt kämpfen die Ukrainer für die Werte Europas. © Alimyakubov - stock.adobe.com

mk online: Das Symposium wird als Veranstaltung „im Kontext“ der Sicherheitskonferenz angekündigt. In welchem Verhältnis steht das Symposium zur Sicherheitskonferenz?

Professor Markus Vogt: Side-Events zur Münchner Sicherheitskonferenz sind üblich und zahlreich. Aber meines Wissens ist es das erste Mal, dass dabei eine Veranstaltung zu den spezifisch theologisch-ethischen Aspekten stattfindet. Es geht darum, die Konturen christlicher Friedensethik angesichts der aktuell so dramatischen Herausforderungen der Sicherheit zu diskutieren. Ich bin überzeugt, dass der christliche Glaube im ökumenischen, interkulturellen und interdisziplinären Dialog wesentlich zur Überwindung von Feindschaften und Ideologien beitragen kann. Wir planen, zum Abschluss des Symposiums ein Memorandum zu formulieren, das dann auch den Teilnehmern der Sicherheitskonferenz zur Verfügung stehen wird.

Was erhoffen Sie sich von dem internationalen Tableau der teilnehmenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler? 

Vogt: Es ist wichtig, dass wir die Erfahrungen der Menschen in der Ukraine hören, die nun schon fast zwei Jahre mit dem Mut der Verzweiflung der russischen Aggression standhalten. Es sind auch Dissidenten aus Russland dabei und wir wollen mit Kolleginnen und Kollegen aus den USA interkontinentale Perspektiven einbeziehen. Es geht bei der Tagung darum, Hintergründe des Krieges, der ein Teil des Kampfes um eine neue Weltordnung ist, im Gespräch zwischen Historikern, Sozialwissenschaftlern und Theologen besser zu verstehen.

Erwarten Sie auch Meinungsverschiedenheiten, womöglich sogar kontroverse Debatten? Welche Fragen bergen Konfliktpotenzial?

Vogt: Die Interpretation des seit gut 20 Jahren in der christlichen Friedensethik vorherrschenden Paradigmas des „gerechten Friedens“ ist durchaus umstritten: Hat es pazifistische Implikationen? Sind Waffenlieferungen an die Ukraine mit ihm vereinbar? Oder folgt aus ihm gerade die Pflicht, Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenrechte durch die Unterstützung der Opfer von Gewalt zu verteidigen? Was bedeutet das noch junge Leitbild des nachhaltigen Friedens, das wir in den Titel der Veranstaltung gestellt haben und das den Frieden programmatisch in seinen Zusammenhängen in den Blick nimmt – zum Beispiel zu Migration, Energiepolitik oder zur gezielten Zerstörung von Natur und Kultur als Teil der Kriegsführung? Kontrovers sind vor allem die unterschiedlichen Vorstellungen, wie der Krieg beendet werden kann, sowie welche Gefahren von einem internationalen Flächenbrand durch neue Bündnisse in Verbindung mit dem israelisch-palästinensischen Krieg ausgehen. Strittig ist auch die Einschätzung, wie hoch die Gefahr des Einsatzes von Nuklearwaffen tatsächlich ist und was man dagegen tun kann.

Kardinal Reinhard Marx und Bischof Bohdan Dzyurakh werden das Symposium mit einem Gebet eröffnen, Marx ist auch als Redner vorgesehen. Wie kam es zu der Entscheidung, dass man von wissenschaftlicher Seite nicht unter sich bleiben will, sondern Kirchenvertreter dazuholt?

Vogt: Das Gebet zu Beginn der Tagung ist Ausdruck der christlichen Theologie, die den Frieden nicht als machbares „Produkt“ versteht, sondern letztlich als Geschenk Gottes. Wir wollen unsere Debatten unter den Segen Gottes stellen und unsere Hoffnung auf Auswege aus den Spiralen der Gewalt auf ihn richten. Das Gebet ist dabei keine Alternative zu rationaler Wissenschaft und zum politischen Handeln, sondern eine komplementäre Ergänzung: In der Hoffnung auf Gott können wir Resignation überwinden und rational, besonnen und solidarisch handeln.

Symposium zu Prinzipien des nachhaltigen Friedens in Europa


Im Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz (16.–18. Februar) findet an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) am 12. und 13. Februar ein Symposium zu Prinzipien des nachhaltigen Friedens in Europa statt. Dem Symposium liegt eine Kooperation der LMU mit der Ukrainischen Katholischen Universität Lwiw und der University of Notre Dame (Indiana, USA) zugrunde, zudem werden Persönlichkeiten aus diversen weiteren Städten teilnehmen.

Die meisten Menschen erwarten von der Wissenschaft wie auch von den Kirchen, dass nicht mit zweierlei Maß gemessen wird. Bekanntermaßen heißt aber die Führung der russisch-orthodoxen Kirche den Krieg Russlands gegen die Ukraine gut. Sicherlich würden auch einige russische Wissenschaftler andere Thesen vertreten als die Personen, die am Symposium an der LMU teilnehmen. Ist der Nationalismus stärker als einheitliche Standards in Wissenschaft und Glaube?

Vogt: Ich halte die theologische Legitimierung des imperialen Angriffskrieges Russlands durch Patriarch Kyrill, der Präsident Putin aus der gemeinsamen Zeit im russischen KGB kennt, für einen Verrat an grundlegenden christlichen Werten. Es geht nicht darum, mit zweierlei Maß zu messen, sondern darum, theologische Kriegspropaganda zu enttarnen. Die kritischen Stimmen in Russland, auch in der russisch-orthodoxen Kirche, wurden von langer Hand systematisch mundtot gemacht und durch Terror zum Schweigen gebracht. Die christlichen Kirchen sind internationale Gemeinschaften. Sie dürfen nicht für nationale Interessen und Terrorregime vereinnahmt werden. Das gilt auch für die ukrainisch-orthodoxe Kirche, die früher mit der russisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats verbunden war und sich nur unvollständig von dieser getrennt hat, sowie für die autokephale orthodoxe Kirche der Ukraine, die den Widerstand der Ukrainer unterstützt. Die Spaltungen innerhalb der Orthodoxie sind tief. Umso mehr ist der ökumenische Dialog hier ein unverzichtbares Element der Überwindung von Entfremdung.

Wie schätzen Sie persönlich Sinn und Nutzen der militärischen Hilfen von westlichen Staaten für die Ukraine und die Chance auf Frieden ein?

Vogt: Ich halte Waffenlieferungen an die Ukraine für ethisch geboten und für einen unerlässlichen Beitrag zu unserer eigenen Sicherheit, da die Ukrainer für die Werte Europas kämpfen und die russische Armee nicht in der Ukraine Halt machen würde, wenn sie keinen Widerstand bekäme. Die Verweigerung von Waffenlieferungen wäre unterlassene Hilfeleistung und ein Verstoß gegen die von den Vereinten Nationen anerkannte Schutzverantwortung. Die einzige Sprache, die Putin versteht, ist leider die der militärischen Stärke. Hier waren wir jahrzehntelang blind, haben viel zu lange passiv den russischen Expansionsbestrebungen zugeschaut und waren vor allem an dem billigen Gas und Öl aus Russland interessiert. Viele Experten sagen, dass die russische Armee inzwischen sehr geschwächt ist und möglicherweise bald mit der Aggression nachlassen, aber dann nach einigen Jahren der erneuten Aufrüstung wieder angreifen wird. Hier ist es enorm wichtig, beharrlich einen nachhaltigen Frieden vorzubereiten. Dieser setzt Wehrfähigkeit unserer Demokratie nach außen und nach innen voraus. Er vermeidet kollektive Feindbilder, auch gegen „die Russen“, die massiv unter den Repressalien des „Systems Putin“ leiden. Das Vertrauen, dass angegriffene Völker auf solidarische Hilfe der internationalen Gemeinschaft zählen können, gilt es zu stärken. Es geht auch darum, die Zusammenhänge und Hintergründe des Krieges zu verstehen. Die Kirchen können eine wichtige Brückenfunktion für Kontakte auch nach Russland wahrnehmen.

Der Redakteur
Joachim Burghardt
Münchner Kirchenzeitung
j.burghardt@michaelsbund.de