Manchmal liegt ein kaum hörbares Beben in der Stimme von Tobias Schmitt (Name von der Redaktion geändert). Seine Nackenmuskeln spannen sich an und ganz leicht beginnt sein Kopf zu zittern. Dann ist zu spüren, wie stark ihn das immer noch mitnimmt, wovon er nüchtern, ruhig und konzentriert erzählt: Tobias Schmitt ist als Kind von seinem Pfarrer missbraucht worden und „später bin ich dann in die Täterorganisation eingetreten“, sagt er und lacht kurz auf. Denn er ist katholischer Priester geworden. Es ist die Geschichte einer Berufung, die sich gegen eine jahrelang erlittene Straftat behauptet hat, die ein Geistlicher ungestört verüben konnte. In einer Gesellschaft und in einer Kirche, in der sich weder Vorgesetzte noch Gläubige um solche Vergehen kümmern wollten.
Vom Pfarrer als Kind jahrelang missbraucht
Begonnen hat alles kurz nach Tobias Schmitts Erstkommunion in den 1970er Jahren. Der noch junge Pfarrer lädt den Buben zu einem Wochenende in seinem Elternhaus ein. Tobias´ Vater und Mutter stimmen gerne und sogar etwas geschmeichelt zu. Der Neunjährige wird nicht nur im selben Zimmer wie der Pfarrer untergebracht: „Das war eine Dachkammer, mit einem ausrangierten großen Ehebett darin.“ Selbstverständlich bekommt er dort seinen Schlafplatz neben dem Geistlichen, einem oft unbeholfenen Mann, „der nicht einmal eine Kaffeemaschine bedienen konnte“. Es ist der Beginn eines lang andauernden sexuellen Missbrauchs.
Der kleine Tobias weiß gar nicht, was ihm da geschieht, wenn ihm dieser Mann die Schlafanzughose nach unten zieht. Es verstört ihn, er fühlt, dass der Erwachsene etwas Verkehrtes, sogar Verbotenes tut: „Aber ich habe geglaubt, der Pfarrer darf das halt.“ Er erzählt niemandem davon, weil er gar keine Worte dafür hat „und ich denke heute, es hätte mir auch niemand geglaubt“. Er nimmt die Übergriffe hin, weil er so gerne in der Kirche ministriert. In der Messe ist er geborgen und fühlt sich Christus so nahe, wie keinem Menschen: „Da war eine Verbundenheit zu Gott, die bis heute geblieben ist.“ Der Pfarrer teilt ihn oft für die Frühmessen am Sonntag ein. Weil der Weg dann kurz und alles ja viel praktischer ist, lässt er Tobias gleich im Pfarrhaus übernachten. Sogar in den Urlaub darf er den Pfarrer begleiten, auf Jugendfreizeiten sowieso. Der Geistliche weist ihm stets einen Schlafplatz in seinem Zelt zu. Niemandem kommt das sonderbar vor, zumindest fragt nie jemand nach.
Auf Missbrauch folgt jahrelange Traurigkeit
Tobias wird zu einem immer stilleren Jungen, der aber begeistert ministriert. Nach vier Jahren zieht seine Familie an einen anderen Ort. Die Verbindung zum bisherigen Pfarrer bricht schnell ab. Tobias spürt eine große Erleichterung und „vergisst“, was ihm widerfahren ist. Zumindest drängt er die Erinnerungen so tief hinab, dass sie ihm nicht mehr zu Bewusstsein kommen. Als Erwachsener kann er sich nicht erklären, „dass mich fast immer eine Wolke aus einer tiefen Traurigkeit umgeben hat“. Obwohl er in seinem Beruf gut vorankommt, als einfühlsamer Seelsorger und Pfarrer gilt, der aber auch eine Kirchenrenovierung managen kann. Gelegentlich begegnet er noch seinem früheren Heimatpfarrer. Der ist jetzt sein Mitbruder und Tobias Schmitt wundert sich, warum er in dessen Gegenwart befangen ist und ihn auf Abstand halten will.
Als 2010 der Jesuitenpater Klaus Mertes den Missbrauchsskandal in Berliner Canisius-Kolleg öffentlich macht, kann Tobias Schmitt nicht mehr schlafen. Es ist nicht allein die Erschütterung, „dass in meiner Kirche so etwas möglich ist“, sondern er merkt, „dass das ja mit mir ganz persönlich zu tun hat“. Plötzlich sind alle Erinnerungen an die Kindheitserlebnisse wieder da. Für Tobias Schmitt beginnt ein langer Weg.