Nationalpark Berchtesgaden

Die verblüffende Eiskapelle

Am Fuße der imposanten Watzmann-Ostwand in den bayerischen Alpen verbirgt sich ein faszinierendes Naturphänomen: die Eiskapelle. Dieser geheimnisvolle Ort offenbart die erstaunlichen Kontraste der Natur, wo Schönheit und Schrecken nah beieinander liegen können.

Hindurchströmendes Wasser und der Luftzug haben die Eiskapelle ausgehöhlt und eine Zauberwelt aus türkisfarbenem und grauem Eis geschaffen. Ein Einsturz des Gewölbes ist jederzeit möglich, das Betreten daher gefährlich. © imago images/imagebroker

Berchtesgaden – Schön und schrecklich, lieblich und infernalisch liegen manchmal verblüffend nah beieinander. Das gilt für die menschliche Gefühlswelt und Psyche, unser Genie und unseren Wahnsinn – aber ebenso für die Natur, in der wir uns und unsere innere Zerrissenheit wiederfinden können. Schließlich ist eine Landschaft, so anmutig und sanft sie auch erscheinen mag, nie nur reines Idyll: Auf Erden liegt nun mal der Panther nicht friedfertig beim Böcklein (Jes 11,6), und die Nachtigall ist nicht nur mit ihrem bezaubernden Gesang beschäftigt, sondern auch mit dem gewaltsamen Erlegen von Insekten. Andererseits lässt sich noch in der trostlosesten Wildnis Schönheit entdecken: vom frischen Trieb, der aus wüstenhaftem Ödland hervorbricht, bis zur schieren archaischen Gewalt und Größe der Schöpfung, wie sie sich im Spiel der physikalischen Kräfte offenbart.

Kontraste der Natur – zwischen Schönheit und Schrecken

Schön und schrecklich – diese Kontraste erlebt auch, wer von St. Bartholomä am Königssee zur Eiskapelle am Fuß der Watzmann-Ostwand wandert. Der See und das Wallfahrtskirchlein sind zunächst ein Inbegriff des Idyllischen, des Idealtypischen schlechthin: ein in beinahe heiliger Stille daliegender Gebirgsfjord mit reinstem Wasser, dessen dunkles Grün beruhigend aus der Tiefe heraufschimmert, malerische Wälder und dann die ziegelrotwarmen Türmchen und Kuppeln des barocken Kleinods St. Bartholomä…Wen zöge dieses Bild, das Wirklichkeit ist, nicht an? Doch wer es von St. Bartholomä nur 30 Meter weit hinüber in den Biergarten schafft, kennt nicht die durch den Wald. Rasch gelangt man zur Kapelle St. Johann und Paul, in deren Nähe früher eine wundertätige Quelle entsprungen sein soll. Nun geht es bergauf, und immer tiefer dringt man vor in das schattige Tal des Eisbachs, welches auf drei Seiten von himmelhohen Steilwänden eingerahmt ist; so hoch und steil, dass kaum noch ein Sonnenstrahl hereinfällt. Wer zuvor noch träumerisch die lichtdurchflutete Uferpromenade am See entlangflaniert ist, sieht sich nun plötzlich einer beklemmenden Düsternis und einem wilden Gewirr von Felsblöcken ausgesetzt.

Schon vor über 200 Jahren hat dieser Anblick Reisende beeindruckt. Joseph August Schultes schrieb 1804, er sah sich „in einem Kessel eingeschlossen, den auch die feurigste Phantasie sich nicht fürchterlicher schaffen kann“, und er zweifle, „ob es irgendwo in Europa einen so grausenvollen Winkel gibt, als dieses Amphitheater um die Eiscapelle.“ Franz Anton von Braune erkannte hier sogar „das schreckliche Chaos einer zerstörungsvollen Catastrophe des Erdballs“. Nun ist es nicht mehr weit: Die letzte, etwas anspruchsvollere Etappe führt teils weglos durch Geröll und über Felsen zum Fuß der sich jäh aufbäumenden Watzmann-Ostwand, einer der höchsten Alpenwände, die erst 1.800 Meter höher am Gipfel endet. Ein ziemlich abrupt einsetzender kalter Wind lässt einen frösteln und verrät, dass es ganz in der Nähe etwas geben muss, das die Luft stark abkühlt. Dann sieht man den Grund: Die Eiskapelle ist erreicht.

Ein Naturwunder in den Alpen

Als weiß-graues Gebilde präsentiert sie sich, im hintersten Talwinkel versteckt wie ein Tier, das in einer Nische kauert. Aus der großen, gähnenden Öffnung plätschert ein kleiner Bach heraus, von den Rändern des Eisdachs tropft es. Am spannendsten ist das Innere des Hohlkörpers: ein Hauptgang, der in der Vergangenheit schon eine Länge von mehreren hundert Metern erreicht hat, sowie mehrere abzweigende Nebengänge mit türkis und grau schimmerndem Eis in einer fantastischen Musterung.

Wie man diesen Anblick empfindet, beschreibt und deutet, liegt völlig im Auge des Betrachters. Einen großen schmutzigen Schneehaufen könnte man die Eiskapelle nennen und gar nicht näher Notiz von ihr nehmen – für andere ist sie dagegen ein edler, geheimnisvoller Eisdom. So oder so, sie ist eine Laune der Natur, ein glaziologisches Kuriosum, das mit der unwirklichen Tatsache irritiert, dass gefrorenes Wasser selbst über wochenlange sommerliche Hitzephasen hinweg bestehen kann. Vielleicht ist sie mit ihrer Aura des Außergewöhnlichen auch ein spiritueller Kraftort – weil sie staunen und zweifeln lässt, weil sie Glückswie auch Angstgefühle hervorrufen kann, weil sie demütig macht.

Das Naturphänomen fasziniert schon seit Jahrhunderten

Alexander von Humboldt war Ende November 1797 hier und beschrieb das „prächtige Eisgewölbe“ mit „milchweißem, durchscheinendem opalähnlichem Eise“ als einer der Ersten. Der Abenteurer Joseph Kyselak, der in seinen Reiseberichten eine gewisse Neigung zum Übertreiben pflegte, scheint besonders ergriffen gewesen zu sein: Er würdigte die Eiskapelle 1825 als „die merkwürdigste Naturschönheit vielleicht in der ganzen Welt“. Später wurde der Schneekegel jedoch auch ganz profan als Skipiste genutzt: Noch in den 1960er Jahren fanden hier im Juni Slalomrennen statt, volksfestartig inszeniert und mit Hunderten Schaulustigen. Derartige Veranstaltungen sind seit der Errichtung des Nationalparks Berchtesgaden im Jahr 1978 nicht mehr möglich, doch auch die strengen Naturschutzmaßnahmen konnten nicht verhindern, dass in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Menschen den Weg zur Eiskapelle suchten und ein ganzes Netz von Pfaden in die Landschaft trampelten. Sogar ganze Schulklassen stiegen hinauf – 1984 mit tragischem Ausgang, als ein Kind, das am Eingang zum eisigen Hohlraum stand, von plötzlich herabstürzenden Eismassen getötet und drei weitere Schüler schwer verletzt wurden. Vorfälle wie dieser rufen in Erinnerung, dass die wilde Bergwelt bei aller Schönheit eben doch auch ein Gefahrenraum ist – weder TÜV-geprüft noch DIN-genormt oder EU-reguliert. Noch deutlicher wird das in der Watzmann-Ostwand, in der bereits über 110 Menschen ihr Leben verloren haben. Vom Betreten der Eishöhle wie auch vom weiteren Aufsteigen in der Wand wird daher gewarnt.

Das Bayerische Landesamt für Umwelt hat die Eiskapelle zusammen mit der Watzmann-Ostwand übrigens in seine Liste der „Schönsten Geotope Bayerns“ aufgenommen – als hundertstes und letztes Objekt, und wie die 99 anderen „wegen ihrer Schönheit, Seltenheit, Eigenart oder ihrem hohen wissenschaftlichen Wert“. Über Stichworte wie diese darf man sinnieren, wenn man dann wieder nach St. Bartholomä hinunterwandert, mit frischen Eindrücken von diesem schönen, seltenen, eigenartigen Eisgebilde, das irgendwie auch ein bisschen unheimlich ist.

Der Redakteur
Joachim Burghardt
Münchner Kirchenzeitung
j.burghardt@michaelsbund.de