Berchtesgaden – Schön und schrecklich, lieblich und infernalisch liegen manchmal verblüffend nah beieinander. Das gilt für die menschliche Gefühlswelt und Psyche, unser Genie und unseren Wahnsinn – aber ebenso für die Natur, in der wir uns und unsere innere Zerrissenheit wiederfinden können. Schließlich ist eine Landschaft, so anmutig und sanft sie auch erscheinen mag, nie nur reines Idyll: Auf Erden liegt nun mal der Panther nicht friedfertig beim Böcklein (Jes 11,6), und die Nachtigall ist nicht nur mit ihrem bezaubernden Gesang beschäftigt, sondern auch mit dem gewaltsamen Erlegen von Insekten. Andererseits lässt sich noch in der trostlosesten Wildnis Schönheit entdecken: vom frischen Trieb, der aus wüstenhaftem Ödland hervorbricht, bis zur schieren archaischen Gewalt und Größe der Schöpfung, wie sie sich im Spiel der physikalischen Kräfte offenbart.
Kontraste der Natur – zwischen Schönheit und Schrecken
Schön und schrecklich – diese Kontraste erlebt auch, wer von St. Bartholomä am Königssee zur Eiskapelle am Fuß der Watzmann-Ostwand wandert. Der See und das Wallfahrtskirchlein sind zunächst ein Inbegriff des Idyllischen, des Idealtypischen schlechthin: ein in beinahe heiliger Stille daliegender Gebirgsfjord mit reinstem Wasser, dessen dunkles Grün beruhigend aus der Tiefe heraufschimmert, malerische Wälder und dann die ziegelrotwarmen Türmchen und Kuppeln des barocken Kleinods St. Bartholomä…Wen zöge dieses Bild, das Wirklichkeit ist, nicht an? Doch wer es von St. Bartholomä nur 30 Meter weit hinüber in den Biergarten schafft, kennt nicht die durch den Wald. Rasch gelangt man zur Kapelle St. Johann und Paul, in deren Nähe früher eine wundertätige Quelle entsprungen sein soll. Nun geht es bergauf, und immer tiefer dringt man vor in das schattige Tal des Eisbachs, welches auf drei Seiten von himmelhohen Steilwänden eingerahmt ist; so hoch und steil, dass kaum noch ein Sonnenstrahl hereinfällt. Wer zuvor noch träumerisch die lichtdurchflutete Uferpromenade am See entlangflaniert ist, sieht sich nun plötzlich einer beklemmenden Düsternis und einem wilden Gewirr von Felsblöcken ausgesetzt.
Schon vor über 200 Jahren hat dieser Anblick Reisende beeindruckt. Joseph August Schultes schrieb 1804, er sah sich „in einem Kessel eingeschlossen, den auch die feurigste Phantasie sich nicht fürchterlicher schaffen kann“, und er zweifle, „ob es irgendwo in Europa einen so grausenvollen Winkel gibt, als dieses Amphitheater um die Eiscapelle.“ Franz Anton von Braune erkannte hier sogar „das schreckliche Chaos einer zerstörungsvollen Catastrophe des Erdballs“. Nun ist es nicht mehr weit: Die letzte, etwas anspruchsvollere Etappe führt teils weglos durch Geröll und über Felsen zum Fuß der sich jäh aufbäumenden Watzmann-Ostwand, einer der höchsten Alpenwände, die erst 1.800 Meter höher am Gipfel endet. Ein ziemlich abrupt einsetzender kalter Wind lässt einen frösteln und verrät, dass es ganz in der Nähe etwas geben muss, das die Luft stark abkühlt. Dann sieht man den Grund: Die Eiskapelle ist erreicht.