Ein Jahr Krieg in der Ukraine

Pfarrer Viitovich: "Für Putin beten wir nicht"

Vor einem Jahr begann mit dem Überfall Russlands der Krieg in der Ukraine. Bald darauf trafen am Münchner Hauptbahnhof die ersten Flüchtlinge aus der Ukraine ein, teilweise waren es täglich bis zu zweitausend Menschen. Pfarrer Wolodymyr Viitovich von der ukrainischen griechisch-katholischen Gemeinde in München blickt auf ein Jahr im Ausnahmezustand zurück.

Pfarrer Wolodymyr Viitovich entzündet Opferkerzen in der Münchner Kathedrale Maria Schutz und St. Andreas der ukrainischen griechisch-katholischen Gemeinde. © SMB/Ertl

mk online: Wie haben Sie den 24. Februar 2022 in Erinnerung?

Pfarrer Wolodymyr Viitovich: Es war ein sehr trauriger und tragischer Tag für die Ukraine und für uns alle hier in Deutschland. Wir waren wie vor den Kopf gestoßen. Eigentlich hatte die Ukraine zwar schon seit der Annexion der Krim durch Russland im Frühjahr 2014 im Krieg gelebt, aber niemand hatte wohl tatsächlich damit gerechnet, dass die russische Armee uns wirklich angreift.

Was haben Sie in Ihrer Pfarrei getan, als Sie vom Überfall Russlands auf Ihr Heimatland erfahren hatten?

Viitovich: Unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Überfalls kamen bereits die ersten Menschen zu uns, die sagten, sie würden gern etwas tun, um die Ukraine zu unterstützen. Am ersten Tag waren es sechs, am zweiten schon 60 Menschen, nach einer Woche waren es über 200. Mittlerweile sind es über 2.000 Freiwillige, die uns geholfen haben, darunter viele Firmen. Auch zahlreiche Schulen und andere Organisationen haben uns bei der humanitären Hilfe für die Zivilbevölkerung der Ukraine, für Kindereinrichtungen und Krankenhäuser unterstützt. So hat es sich also fast wie von selbst ergeben, dass wir in der Pfarrei vom ersten Tag des Krieges an Hilfsgüter gesammelt und in die Ukraine verschickt haben. Wir sind dabei sehr schnell an unsere räumlichen Grenzen gestoßen und mussten aufgrund des Spendenaufkommens andere Räume suchen. Schließlich ist auch der Verein „München Hilft Ukraine e. V.“ (MHU) hieraus entstanden.

Wie erklären Sie sich diese große Hilfsbereitschaft vom ersten Tag an?

Viitovich: Ich kann sie mir tatsächlich bis heute nicht wirklich erklären. Ich dachte zuerst, dass sich Deutschland nach der Krise mit syrischen Flüchtlingen nicht mehr so hilfsbereit zeigen würde, aber es war wirklich überwältigend, wie die Menschen reagiert haben. Mit so einer großen Unterstützung hätten wir niemals gerechnet. Es war großartig, dass die Menschen nicht nur gespendet haben, nein, sie sind einfach vorbeigekommen, haben sich von der Arbeit freigenommen, sich hingestellt und Hilfsgüter eingepackt. Es waren Deutsche, Franzosen, viele unterschiedliche Nationalitäten, aber alle mit einem gemeinsamen Ziel. Alle begeisterten sich für diese eine Idee, den Menschen in der Ukraine helfen zu können. So etwas hatte ich bis dahin noch nicht erlebt.

Ein Geschenk des Himmels?

Viitovich: Ja, es war wie ein Geschenk des Himmels. Das war vielleicht das schönste Gefühl, das ich als Pfarrer im vergangenen Jahr erleben durfte.

Die folgenden Tage waren für die ukrainische Gemeinde in München sehr ereignisreich, sehr bald kam auch Kardinal Reinhard Marx vorbei…

Viitovich: Ja, er kam und mit ihm auch sehr viel Hilfe seitens der Erzdiözese. Wir sind darüber auch sehr froh gewesen. Es kamen auch Politiker, Zeitungsjournalisten, wir mussten viele Interviews geben. Mir war es dabei immer wichtig, die Menschen, die uns helfen, hierbei in den Mittelpunkt zu rücken, dass auch sie ihre Meinungen sagen konnten zu den Ereignissen, zum Krieg.

Wieviel haben Sie in dieser Zeit geschlafen?

Viitovich: Oh, das war sehr schwierig, wir waren alle so aufgewühlt und aufgedreht. Ich weiß nicht, wann all die Freiwilligen jemals geschlafen haben. Irgendwann nach zwei, drei Monaten hat man aber gemerkt, dass die Menschen müde und geschafft waren. Da haben wir in der Pfarrei versucht, alles besser zu strukturieren und zu kanalisieren, damit die Freiwilligen ein wenig zur Ruhe kommen konnten.

Wie stellt sich die Situation nun heute, ein Jahr nach Kriegsausbruch, für Ihre Arbeit dar? 

Viitovich: Leider nicht so gut. Die räumliche Situation ist sehr angespannt. In Deutschland haben wir über eine Million Flüchtlinge, sehr viele davon auch im Großraum München. 

Wie viele Flüchtlinge aus der Ukraine kommen derzeit täglich in München an? 

Viitovich: Zurzeit wenige, es sind sogar etliche inzwischen wieder zurückgegangen. Aber sehr viele sind noch da. Zudem rechnen wir mit einem neuen Angriff Russlands im Frühjahr, Russland hat sehr viele Soldaten zusätzlich mobilisiert. Wer weiß, wie sich die Flüchtlingssituation dann wieder entwickelt.

Wie ist die Situation derer, die schon länger hier leben? Konnten sie Fuß fassen? 

Viitovich: Ich freue mich darüber, dass die meisten, die zu uns gekommen sind, sich auf den Weg gemacht haben, die Sprache zu lernen, eventuell auch eine Arbeit und eine Wohnung gefunden haben. Wohnungen sind ein großes Problem. In den ersten zwei Monaten haben wir über 60 Familien privat untergebracht. Manche wohnen bis heute noch bei ihren Gastfamilien. Weder die Flüchtlinge noch die Gastfamilien haben damit gerechnet, dass der Krieg so lange andauern würde. Viele Familien haben auch ihre Väter verloren, auch ihr Zuhause. Es gibt nichts, wohin sie zurückkehren könnten.

Welche Unterstützung wird gegenwärtig vor allem benötigt?

Viitovich: Wir brauchen zurzeit sehr viel medizinische Hilfe, Anti-Erkältungspräparate für Kinder wie Erwachsene in der Ukraine. Dazu alles, was Wärme bringt. In den ukrainischen Großstädten gibt es teilweise keinen Strom. Wir brauchen daher Generatoren, warme Kleidung oder Spenden, damit wir dies gezielt einkaufen können.

„München Hilft Ukraine e.V.“ (MHU) ist ein gemeinnütziger Verein, der die unter dem russischen Angriffskrieg leidenden Menschen in der Ukraine mit Sach- und Geldspenden unterstützt. Hervorgegangen ist der Verein aus einer Initiative der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche in München-Untergiesing. Gemeinsam mit über tausend Freiwilligen seit Kriegsbeginn versorgt MHU Menschen in der Ukraine sowie Geflüchtete mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Medikamenten.

Wie werden Sie den Jahrestag des Kriegsbeginns begehen?

Viitovich: Es wird in München am Freitag, 24. Februar, um 18 Uhr ein ökumenisches Friedensgebet in St. Michael (Neuhauser Straße 6) geben. Vertreter verschiedener Konfessionen werden sich zusammen mit Kardinal Marx zum gemeinsamen Gebet für die Menschen in der Ukraine und den Frieden versammeln.

Wie sieht es in Ihnen persönlich aus: Würden Sie am liebsten selbst zum Gewehr greifen und in Ihre Heimat ziehen?

Viitovich: Vor ein paar Monaten gab es vielleicht schon diesen Gedanken, dass ich in der Ukraine mehr gebraucht würde als hier. Aber ich habe hier meine Familie und meine Pfarrei, für sie trage ich momentan die Verantwortung. Und ich denke, dass ich hier auch viel für mein Land tun kann. 

Wie denken Sie in so einer Situation über Jesu Worte von der Feindesliebe?

Viitovich: Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Ich schätze, dass diese Jesus-Worte eher einen lebenslangen Prozess umschreiben. In der jetzigen Situation kann ich auch sehr gut nachvollziehen, dass die Menschen von diesen Worten vielleicht nichts halten. Es ist sehr schwierig, Trost zu spenden, wenn eine Familie den Vater im Krieg verloren hat und nun vor einer ungewissen Zukunft in einem fremden Land steht. Im gesamten Leben aber hat man genug Zeit, über diese Worte nachzudenken und sie zu verwirklichen. Momentan ist das eher schwierig.

Beten Sie auch für Putin und Russland?

Viitovich: Wir beten, wie es in kirchlichen Kreisen so schön heißt, für alle Verantwortlichen, dass sie die Bereitschaft zum Dialog zeigen. Für Putin beten wir nicht, nein, dafür für alle Menschen, die den Willen haben, diesen Krieg zu beenden. Bei der russischen Führung scheint dieser Wille aber nicht zu bestehen.

Was denken Sie, wie wird sich die Situation an der Front weiterentwickeln?

Viitovich: Es wird ein sehr schweres Jahr und vielleicht auch das entscheidende Jahr für die Ukraine. Russland hat so viele Kräfte für diesen absolut sinnlosen und für mich nicht nachvollziehbaren Krieg mobilisiert, dass es sehr schwere Kämpfe geben wird. Ich habe den Eindruck, dass die russische Führung stark unter Druck steht, ihrem Volk endlich Erfolge vorzuweisen, dass sie dafür alle Soldaten in diese Hölle hineinschicken wird. Es sind schon sehr viele Ukrainer gestorben, so viele junge Menschen, die ihr Leben gelassen haben. Ich schätze, es werden noch so viele weitere sterben. Es ist eine sehr traurige Geschichte.

Wie sehen für Sie die Möglichkeiten für Frieden aus?

Viitovich: (seufzt) Momentan sehe ich, ehrlich gesagt, keine großen Möglichkeiten, weil die russische Führung so unnachgiebig den „Sieg“ anstrebt, was immer das genau bedeuten mag. Ich habe schon lange befürchtet, dass wir in diese Spirale der Gewalt gelangen, mit immer neuen Waffen. Ich bin da skeptisch, es sterben trotzdem so viele. Die Waffen werden den Krieg nicht gewinnen. Ich hoffe auf den Frieden, dass es irgendwann zu Friedensprozessen kommt. Ich muss ja hoffen, aber die Hoffnung ist nicht allzu groß.

Der Autor
Florian Ertl
Münchner Kirchenzeitung
f.ertl@michaelsbund.de