Oktoberfest 2023

Pfarrer Schießler: Wiesn ist mehr als nur ein Bierzelt

In wenigen Tagen ist es wieder soweit und das größte Volksfest der Welt beginnt. Die Wiesn ist Kult aber was macht das größte Volksfest der Welt so einzigartig? Eine Antwort von Wiesn-Fan Pfarrer Rainer Maria Schießler.

Rainer Schießler spürt auf der Wiesn pure Lebensfreude. © IMAGO / Michael Westermann

Eines ist klar: Man kann’s mit der Wiesn oder halt nicht. Es macht überhaupt keinen Sinn, jemanden für die Wiesn zu begeistern, der sie nicht mag – und umgekehrt: Wer einmal das Besondere am Münchner Oktoberfest gespürt hat, kriegt es nicht mehr aus seinem Herzen.„Jetzt bin ich schon 18 Jahre da heraußen, aber jedes Jahr werd’ ich nervöser“, sagt meine Bedienungskollegin, als wir am „Anstichtag“ bereits gegen 11 Uhr in der langen Reihe von Bedienungen an einer der Schänken im Schottenhamel-Zelt anstehen, damit wir den Gästen in unserem Service ganz schnell nach dem Anzapfen durch den Oberbürgermeister um 12 Uhr das erste Bier bringen können. 14 Mass trägt man da bei jedem Gang immer weg, das sind dann schon mal um die 32 Kilo Gewicht. Aber man spürt die Last kaum, die ganze Energie in diesem Moment treibt einen unglaublich an und lenkt einen wie ferngesteuert auf den Wegen durch das proppenvolle Bierzelt.

Vorfreude vor offziellem Beginn der Wiesn

Schon um 8 Uhr früh kommen die vornehmlich jungen Gäste in Scharen herausgeströmt (auf die Wiesn geht man „hinaus“, weil die Theresienwiese ja vor der Stadt liegt!), belegen Tische und Plätze, vertreiben sich die noch musiklose Zeit mit dem, was die kleine Vormittagskarte hergibt, wie Brotzeit und Getränke, außer Bier natürlich, tratschen und lachen und warten voller Vorfreude auf … ja, was nun? Dass die erste Mass Bier gezapft wird! Distanziert betrachtet, müsste man nur noch den Kopf schütteln, was ist daran so besonders? Doch auf der Wiesn ist es etwas Besonderes.

Man spürt förmlich, wie der Pegel, ganz ohne Alkohol, immer mehr steigt, je mehr es auf 12 Uhr hingeht. Das Rauschen wird lauter, die Spannung ist zum Greifen nah, gleich geht’s los! In solch einem Moment hat die Kollegin sich mir zugewandt und das Bekenntnis ihrer Nervosität abgegeben. Sie hat auch recht. Es ist irgendwie wie an Heiligabend, kurz vor der Bescherung, als wir Kinder vor der noch abgeschlossenen Wohnzimmertür saßen, durch die Glastür aber bereits das Licht des vom Vater angezündeten Christbaums verschwommen wahrnahmen.

Liturgie im Bierzelt

Wie wenn sich diese Tür nun feierlich auftut, wird auf der Wiesn ein Fest eröffnet: Die himmlische Herrlichkeit kann beginnen! Das Bierfass im Schottenhamel (und mittlerweile auch in den übrigen Zelten) wird liturgisch zelebriert angezapft, der erste Masskrug wie eine Siegestrophäe in die Höhe gereckt, der weltberühmte Ruf des „Ozapft is“, den wirklich nur die der bairischen Sprache mächtigen Zeitgenossen richtig aussprechen können, hinausgerufen und zu guter Letzt eine friedliche Zeit für die kommenden mindestens 16 Tage beschworen. Millionen von Menschen werden dieser Aufforderung folgen, jedes Jahr (außer zweimal während Corona), und hinausziehen auf dieses Gelände der Lebensfreude.

Mehr nicht?, möchte man da fragen. Nein, mehr ist es auf den ersten Blick wirklich nicht. Tausende feiernde Menschen aber stimmen jedes Jahr in diesen Moment ein, und sie alle können nicht irren. Hier ist alles Kult: Die Menschen, die die Sekunden herunter- und die Schläge mitzählen, die der Oberbürgermeister zum Anzapfen benötigt (beim ersten Mal durch Thomas Wimmer im Jahre 1950 waren es ganze 17 Schläge!), das Jubeln der Menschen in den Zelten, das Böllerschießen punkt 12 Uhr von draußen, die ersten Karussells, die sich drehen, und die Musikkapellen, die aufspielen. All das ist nicht konstruiert oder eingeübt. Es lebt sich einfach selbst, ist pure, greifbare Lebensfreude. Man taucht regelrecht in sie hinein. Eine solche Atmosphäre ist nicht kopierbar, hat einfach Alleinstellungsmerkmal. Diese Wiesn ist nicht einfach ein Rummel oder eines von vielen Bierund Zeltfesten, wie es viele andere gibt. Sie ist mehr, sie muss mehr sein. Sie braucht keine Werbung, und trotzdem will jeder hin.

Oktoberfest ist für München auch Erkennungsmerkmal

Sicherlich ist ein Grund dafür, dass sie selbst Geschichte und Tradition hat und ist. Man spürt es ganz deutlich, gerade in diesem Moment des Beginns, wie die Menschen diese Geschichte weiterentwickeln wollen: Ein neues, weiteres Oktoberfest kann beginnen! Natürlich ist sie auch das Erkennungsmerkmal schlechthin für die Stadt München und ohne Zweifel ein konkurrenzloses Aushängeschild bayerischer Lebenskultur, das in den letzten Jahrzehnten vom gemütlichen Biergarten- und Brotzeittreff zur ultimativen Partyszene mutierte. Die Wiesn ist jedenfalls mehr als Bierzelte, Essen und Trinken, Blasmusik und Wiesnhits. Zu
ihr gehört alles, was ein gutes Volksfest ausmacht, mit allen möglichen Vergnügungseinrichtungen und Fahrgeschäften, Leckereien und Mitbringseln. Ihr Glutkern aber sind die Festzelte, die aus den Bierburgen der Jahrhundertwende entstanden sind.

Das Oktoberfest ist nicht nur ein Gesamtkunstwerk, einmalig in seinen Ausmaßen, in Organisation und Durchführung, sie ist ein Lebensraum. Es sind die menschlichen Momente, die hier stattfinden. Es trifft sich die ganze Welt und nicht nur der nahe Umkreis wie bei kleineren Volksfesten. Um Worte ringend kann man Bedienungen dabei beobachten, wie sie versuchen, Gästen auf Englisch oder Italienisch die Speisekarte zu übersetzen. Aus dem Hendl wird dann das „pollo“ und aus der Schweinshaxe der „stinco“ und die Neuseeländer am Nebentisch bekommen erklärt, was ein „emperornonsens“ ist, also ein Kaiserschmarrn.

Teamgeist auf der Wiesn

Eine Bedienung kommt mit einem ganzen „Schlitten“ (Bezeichnung für das große Tablett) voller wunderbar duftender Speisen vom Hendl bis zum Schweinsbraten an den Tisch. Der Gast moniert, wo denn sein bestelltes Bier sei, die Bedienung legt die rechte Hand auf ihren Kopf und stellt erschüttert fest: „Eben war’s noch da oben!“ Alle am Tisch lachen über diese Einlage und niemand ist beleidigt. Genau darauf kommt es an. Spätabends kommt ein Gast, der bereits merklich gut konsumiert hat, aus dem Zelt, bittet uns Bedienungen um eine gebrauchte Gabel aus dem Geschirrwagen, kämmt sich damit lächelnd die Haare und gibt die Gabel dankend zurück mit den Worten: „So, jetzt sitzen’s wieder und ich kann heimgehen!“

Bedienungen, das Aushelfen und Einspringen trotz allem Stress und aller Hektik um einen herum, die Sorge füreinander, weit weg von Futter- oder Kollegenneid. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass man bei dieser Arbeit nur als Team bestehen kann. Ein anderer reicht dir nach, was du noch brauchst und vergessen hast.

Oktoberfest ist kein Massenbesäufnis

Beim Gast angekommen, macht man dem ganzen Tisch eine Riesenfreude, weil sie alle ihre Speisen und Getränke gemeinsam bekommen. Das Festmahl kann beginnen. Es war dieses Austeilen, mit dem man den Menschen eine solche Freude ins Gesicht zaubert, die mich immer wieder so sehr begeisterte. „Gebt ihr ihnen zu essen!“, fordert Jesus bei der wunderbaren Brotvermehrung seine Jünger auf. Unweigerlich kam mir in solchen Momenten ständig dieses Bibelwort in den Sinn. Aber ob biblisch betrachtet oder eben nur auf einem Volksfest: Feiernde Menschen sind mir tausendmal lieber als streitende.

Ja, natürlich gibt es auch Schlägereien und Pöbeleien auf der Wiesn. Ich bin davon Gott sei Dank immer nahezu verschont geblieben. Menschen, die sich falsch benehmen, treffen wir aber überall an: in Sportstadien, auf unseren Straßen oder in öffentlichen Verkehrsmitteln. Darin hat die Wiesn kein Alleinstellungsmerkmal und trotz der Menge an Festbier, das hier in sehr kurzer Zeit konsumiert wird, ist sie kein Massenbesäufnis, wie man ihr gerne unterstellt. Jeder hat selbst zu entscheiden, was und wie viel er sich zumuten will oder kann. Wer zu weit geht, muss halt gehen – wenn nötig, unter Aufsicht des Sicherheitspersonals. Die meisten aber wollen feiern, das Leben genießen und Freude haben. Und sie haben vollkommen recht, wenn sie das tun. In diesem Sinne: Ozapft is! Auf eine friedliche Wiesn! (Rainer Schießler ist Pfarrer von München St. Maximilian und hat zehn Jahre auf dem Oktoberfest bedient.)