Theologin und Heilkundlerin

Hildegard-Medizin zwischen Mythos und Vermarktung

Noch immer sind viele Menschen von Hildegard-Produkten fasziniert. Doch der Name "Hildegard" ist nicht geschützt, deshalb sind diese Produkte mit Vorsicht zu genießen. Nicht überall, wo Hildegard draufsteht, ist auch Hildegard drin.

Was heute unter Bezugnahme auf Hildegard veröffentlicht wird, ist mit Vorsicht zu genießen. © stock.adobe.com - beheva

Wer gesund leben möchte, dem sind diese Leckereien bestimmt schon einmal über den Weg gelaufen: Dinkel-Kekse à la Hildegard oder Edelschokolade mit der „Hildegard-Immun-Kraft“. Und wer sich in Kurorten und Exerzitien-häusern umschaut, findet hier und da heilkundliche Anwendungen oder Fastenkuren, die der heiligen Frau zugeschrieben werden. Auch wenn der Boom um die sogenannte Hildegard-Medizin in den vergangenen Jahren nachgelassen hat, ist die Benediktinerin aus dem 12. Jahrhundert weiterhin fester Bestandteil unseres modernen Gesundheitsbewusstseins.

Angefangen hat alles vor gut 50 Jahren, als Gottfried Hertzka sein Buch „So heilt Gott: Die Medizin der hl. Hildegard von Bingen als neues Naturheilverfahren“ auf den Markt brachte. Der österreichische Arzt hat in dem Werk auf der Grundlage der deutschen Übersetzungen der unter Hildegards Namen überlieferten Schriften seine eigene Heilkunde abgeleitet mit dem Anspruch, dass es sich dabei um Offenbarungen handele, die Gott Hildegard geschickt habe und die man deshalb auch heute noch anwenden könne, erklärt die Hildegard-Expertin Hildegard Gosebrink. Die Theologin ordnet diesen Anspruch allerdings als „schwierig“ ein. Denn das Offenbarungsverständnis habe sich grundlegend geändert.

Viele naturwissenschaftliche Irrtümer in der Bibel

Man glaube mittlerweile, dass die Bibel möglicherweise voller naturwissenschaftlicher Irrtümer stecke. Das schmälere aber nicht unseren Glauben, dass es das Wort Gottes ist, „weil unser Glaube, dass das irgendwie offenbart sei, auf einer ganz anderen Ebene zu finden ist als auf der der naturwissenschaftlichen Details“. Und was für die Bibel gelte, gelte für Visionen von Menschen egal aus welcher Zeit erst recht, betont Gosebrink. Wenn Hertzka zum Beispiel in seinem Buch die Empfehlung an kinderlose Frauen gibt, „Hainbuchen-Milch“ zu trinken, und Frauen dann aber trotzdem nicht schwanger werden, frage man sich, was mit den Offenbarungen Gottes an die heilige Hildegard wohl schiefgelaufen sei. „Das finde ich pastoral sehr verhängnisvoll, was da aufgemacht wird“, gibt Gosebrink zu bedenken.

Anstatt sich auf ihre Visionen zu stützen, plädiert sie für einen kritischen Umgang mit den Schriften, die der Heiligen zugeschrieben werden können. Im Gegensatz zu Hildegards theologischem Werk gebe es im heilkundlichen Bereich nicht eine so alte und breite Überlieferung. Letzten Endes könne man sich hier nur auf die Schriften „Physica“ (Natur) und „Causae et curae“ (Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten) stützen. Gosebrink weist darauf hin, dass diese beiden Titel die einzigen sind, die unter Hildegards Namen überliefert sind.

Bezeichnung „Hildegard von Bingen“ nicht geschützt

Dennoch füllt Hildegard-Literatur in den Buchhandlungen ganze Regale, denn die Bezeichnungen „Hildegard“ beziehungsweise „Hildegard von Bingen“ seien nicht geschützt. Der Grund dafür, dass bis heute Bücher, Produkte und Veranstaltungen, die sich auf Hildegard beziehen, erfolgreich vermarktet werden. Dabei habe diese, so Gosebrink, weder Fastenkurse konzipiert noch Back- oder Kochbücher geschrieben. Zu dem wohl populärsten Hildegard-Thema Dinkel seien in der Physica gerade einmal fünf Sätze überliefert. In dem Kapitel über Getreidesorten seien neben Dinkel auch Roggen, Hafer und Weizen genannt. „Dass Hildegard für den Dinkel berühmt ist, ist eine Erfindung des späten 20. Jahrhunderts“.

Außer für die Wertschätzung des Dinkels ist Hildegard auch für ihre angebliche Edelstein-Medizin berühmt. Dass die Hildegard zugeschriebene Physica die heilende Wirkung von Edelsteinen nicht nur auf die antiken Vorstellungen von Medizin zurückführt, sondern diese auch mit biblischen Vorstellungen verbindet, macht die Edelstein-Thematik für Gosebrink so spannend, dass sie ihr in ihrem Buch „Hildegard von Bingen. Die Welt ist voll Licht“ ein eigenes Kapitel widmet. Hildegard führe, so Gosebrink, die antike Sichtweise der vier Körpersäfte von Blut, Schleim, Galle und Schwarzgalle, die den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft entsprechen, mit der Erkenntnis aus dem Christentum zusammen, dass die Vier in der Heiligen Schrift generell eine Zahl für die Vollkommenheit der Schöpfung ist. Das habe Hildegard gewusst und habe es auf ihre Vorstellungen von den Edelsteinen übertragen.

Saphir erinnert an die Weisheit

In der Physica heißt es zum Beispiel, die aus den vier Paradiesflüssen des Garten Eden stammenden Edelsteine bestünden aus den Elementen Feuer und Wasser und seien damit warm und feucht. Das heißt, „sie sind einsetzbar bei Krankheiten, die verursacht werden von Körpersäften, die zu trocken und kalt sind“. Ein besonderer Edelstein ist für Hildegard der Saphir. Er erinnert an die Sapientia, die Weisheit, die für Hildegard Christus selbst ist. Deshalb finde man in der Physica die Vorstellung, „man soll an einem Saphir lutschen, das steigere die Weisheit“.

Auch wenn Hildegard in ihrer Edelstein-Medizin eine Brücke zum Christentum baut, würde man das Saphir-Lutschen heutzutage dem Bereich der Esoterik zurechnen. Wie also sollen wir umgehen mit der Hildegard-Medizin, die sich auf dünnem Eis bewegt? Gosebrink wirbt für Toleranz. „Ich kenne viele Menschen, die das wirklich glauben.“ Und dennoch: Viele mittelalterliche Heilmittel seien nachweislich nicht wirksam. Das gelte auch für Hildegards Empfehlungen. Sie sollte man weiterhin nur mit Vorsicht genießen.

Der Autor
Paul Hasel
Radio-Redaktion
p.hasel@michaelsbund.de