Monsignore Rainer Boeck

Flüchtlingsbeauftragter: "Wir müssen einander verstehen lernen"

In den vergangenen sieben Jahren hat Monsignore Rainer Boeck als Diözesanbeauftragter für Flucht, Asyl, Migration und Integration (FAMI) zunächst die Abteilung FAMI im Erzbischöflichen Ordinariat aufgebaut und dann geleitet. Nun wird er sich anderen Aufgaben widmen. Im Interview blickt er auf die vergangene Zeit zurück.

Monsignore Rainer Boeck © Dietmar Kattinger/Vechta

mk online: Wie sehen Sie die aktuelle politische Situation in Bezug auf Geflüchtete, die nach Deutschland wollen?

Monsignore Rainer Boeck: Im Moment kommen wieder viele Flüchtlinge nach Deutschland – aus der Ukraine, aber auch aus anderen Ländern. Natürlich ist das für uns nicht leicht zu schultern. Und doch kann man nur staunen, wie gut, ja fast geräuschlos uns die Aufnahme von über einer Million Ukrainerinnen gelungen ist. Umso bedenklicher sind jetzt die Diskussionen sowohl bei uns als auch auf EU-Ebene, die mehr oder weniger auf die Schließung der Außengrenzen und eine totale Abschottung Europas abzielen. Das Asylrecht besagt aber, dass jeder Geflüchtete das Recht hat, sein Asylbegehren zumindest ordnungsgemäß prüfen zu lassen. Durch die Bemühungen, die Verfahren an die Außengrenzen zu verlagern, also zum Beispiel nach Libyen, soll dieses individuelle Recht erheblich eingeschränkt werden. Man will die Menschen gar nicht erst zu ihrem Recht kommen lassen, sondern sie draußen vor den Toren Europas halten. Das empfinde ich als schlimm und bedenklich. Denn am Ende läuft es auf eine Aushöhlung der Genfer Flüchtlings- und der Europäischen Menschenrechtskonvention hinaus. Es scheint, als stünde die europäische Asylpolitik vor ihrem Bankrott. Dabei weiß man, dass dichte Grenzen, dass Mauern und Stacheldraht nie eine Lösung auf Dauer sind. Ganz abgesehen von den Wirkungen auf die eigene Gesellschaft, die sich in ihre Grenzen einschließt. Es ist noch nicht zu lange her, dass die Mauern der DDR gefallen sind.

Wie hat die Erzdiözese am Beginn des Krieges in der Ukraine und damit auf die Flüchtlingswelle reagiert?

Boeck: Das war eine enorme Herausforderung. Gott sei Dank konnten wir rasch und erfolgreich reagieren. Ich erinnere nur an den Infopoint der Caritas am Münchener Hauptbahnhof. Die Mammutaufgaben stellen sich aber erst hinterher: die Suche nach Wohnraum und Arbeit. Vorher stehen noch die schulischen und beruflichen Bildungsmaßnahmen, die wiederum deutsche Sprachkenntnisse voraussetzen. Und, und, und. Überall da helfen wir mit viel persönlichem Einsatz, aber auch mit finanzieller Unterstützung.

Was erfahren Sie von den Menschen, wenn Sie in die Einrichtungen gehen und Projekte besuchen?

Boeck: Mir geht es da wie jedem Menschen. Als Erstes ist man immer versucht, die Geflüchteten zu fragen, woher sie kommen, wie es ihnen auf der Flucht ergangen ist, was sie alles erleiden mussten. Das sind allerdings gefährliche Fragen, weil sie tiefe Wunden aufreißen und zu Retraumatisierungen führen können. Viel wichtiger ist da die Frage, wie ihre jetzige Situation ist, wie es ihnen aktuell geht und welche Hoffnungen sie haben. Und wenn ich als Vertreter des Erzbischöflichen Ordinariats da bin, kommen natürlich auch Erwartungen auf mich zu: Was kannst du denn konkret für mich tun? Wichtig ist mir da die Einbeziehung unserer tollen Helferkreise.

Sie übernehmen nun neue Aufgaben. Wie blicken Sie zurück auf die Zeit als Flüchtlingsbeauftragter?

Boeck: Ich habe in unserer Erzdiözese viele und ganz unterschiedliche Aufgaben übertragen bekommen. Nach fast vier Jahrzehnten als Priester ist mir die Arbeit für FAMI besonders wichtig geworden. Dabei denke ich an die allererste Reise, die Franziskus als Papst auf die Flüchtlingsinsel Lampedusa unternommen hat. Damals hat er gesagt, die Sorge für die Geflüchteten ist ein erster Auftrag der Kirche. Wie ein Ausrufezeichen hat der Papst diese Sorge vor alles kirchliche Tun gesetzt. Da im Auftrag unseres Kardinals mitzuarbeiten, ist mir zum Herzensanliegen geworden, das ich auch künftig nicht beiseitelegen kann.

Sie haben viele Flüchtlingsunterkünfte besucht und waren auch in Griechenland in einem Lager.

Boeck: Ein Bild, das ich nie vergessen werde, ist, als ich auf dem Gelände von Moria auf der Insel Lesbos gestanden bin, allein, zwischen verbrannten Dokumenten, verbrannten Kinderschuhen, verbrannter Kleidung. Das war ein Bild des Grauens und des Elends. Ich war in vielen Flüchtlingsunterkünften. Allen gleich ist, dass die Menschen dort oft über Monate, ja manchmal Jahre in großer Hoffnungslosigkeit leben müssen. Sie wissen nicht, was ihnen endgültig bevorsteht. Währenddessen müssen sie ohne Beschäftigung bleiben. Und ihre Kinder bekommen nur ein Minimum an Ausbildung. Welche vertanen Chancen!

Haben Sie ein Lebensmotto?

Boeck: Ja (lacht); es ist vielleicht überraschend kurz. Nur ein Wort: „verstehen“. Ich habe das ein bisschen übernommen von Frère Roger aus Taizé, der immer betont hat, dass sich die Kirche heute wandeln müsse. Der erhobene, moralische Zeigefinger habe ausgedient. Vielmehr sollten wir Verstehende sein. Das Verstehen ist im Blick auf das, was ich mit Flüchtlingen erlebt habe, das A und O der Arbeit. Wenn wir die Großen, die Besserwissenden sind, dann wird das schiefgehen. Gerade den Geflüchteten müssen wir auf Augenhöhe begegnen. Wir sollten verstehen lernen, was diese Menschen uns mitbringen, was wir von ihnen lernen können. Ich hatte zudem die Aufgabe, die FAMI-Thematik in unsere Pfarreien hineinzutragen. Natürlich bin ich hier auch auf Ängste und Abwehr gestoßen, was nicht einfach vom Tisch zu wischen ist. Sondern es sind Verständnis und Gespräche dafür nötig, um Blockierungen aufzulösen. Und schließlich braucht es ein Verstehen dafür, wenn die Geflüchteten untereinander unter einem Zwei-Klassen-System leiden: Wie schwer ist es etwa für Geflüchtete aus Afrika, zu sehen, wie unbürokratisch die aus der Ukraine bei uns willkommen geheißen werden. All das gilt es zu verstehen und aufzugreifen. Also, verstehen, verstehen und noch einmal verstehen.

Die Autorin
Andrea Haagn
Fernseh-Redaktion
a.haagn@michaelsbund.de