Zeit freiräumen durch Verzicht

Zeit gut leben statt nur einen Zeitplan erfüllen

Zeit können wir nicht fühlen oder wahrnehmen. Dennoch ist Zeitdruck oder Zeitmangel ein täglicher Begleiter unseres Lebens. Karlheinz Geißler trägt schon lange keine Uhr mehr und befasst sich trotzdem mit der Zeit wie kaum jemand anderer.

Zeitmangel ist ein täglicher Begleiter. © Imago

Den Ursprung fast aller unserer Zeitprobleme sieht der Vordenker des achtsamen Umgangs mit Zeit, Buchautor zum Thema und Gründer eines Instituts für Zeitberatung in der Verbindung von Zeit und Geld. Damit wurde die Arbeitswelt von den natürlichen Lebensrhythmen abgekoppelt, die Uhr als gemeinsamer Zeitmesser bestimmt den Tag. Das habe unseren Wohlstand ermöglicht, räumt der emeritierte Professor für Wirtschafspädagogik ein, „aber man muss wissen, dass dieser Wohlstand mit Zeitdruck und Zeitnot erkauft ist und da muss man eine Balance finden zwischen Zeitnot und Zeitwohlstand.“ Es sind viele Zeitprobleme, die durch die Uhrzeit entstehen.

Zeitlosigkeit ist ideale Zeit

Als Standardlösung dafür werden heute in der Regel Tipps für besseres Zeitmanagement gegeben. Dich die sind dafür keine Lösung findet Karlheinz Geißler: „Das ist eher der Versuch, über die Runden zu kommen.“Zeitmanagement sei immer Uhrzeit Management: „Im Zeitmanagement lernen sie nicht ihren Alltag nach den eigenen Zeitempfindungen zu organisieren, sondern nur, wie sie den Vorgaben der Uhrzeit besser entsprechen. Der eigene Rhythmus ist nicht Thema. Und wenn Uhrzeit das Problem ist, ist das Zeitmanagement nicht die Lösung.“ Wie gut es uns geht ohne den Zeittakt von außen, hat jeder schon im Urlaub erfahren, wenn man Datum und Wochentag nicht mehr im Kopf hat und in den Tag hineinleben kann. „Die Zeitlosigkeit ist eigentlich die ideale Zeit“, stellt der Zeitforscher fest: „das heißt, ich denke gar nicht an die Zeit, ich lebe die Zeit.“

Verlernt Zeitvorgaben zu entwickeln

Mit Ausbruch der Corona-Pandemie haben sich die Terminkalender der meisten Menschen schlagartig geleert, ausgefallene Besprechungen, weniger private Treffen und auch Rahmenvorgaben, wie Arbeitsbeginn und – ende oder die Lernzeit für Kinder wurden im Homeoffice oder im Distanzunterricht außer Kraft gesetzt. Eine neue Aufgabe, wie der Zeitexperte betont: „Sie sind zwar entlastet von Zeitvorgaben von außen, auf der anderen Seite müssen sie eine Fülle von Zeitentscheidungen jeden Tag selber treffen“. Und er macht deutlich: „Wir spüren durch die Corona-Krise, dass wir nicht gelernt haben, unsere eigenen Zeitvorgaben zu entwickeln, wenn die Institutionen wegfallen, die das normalerweise vorgeben“. Spürbar werde das zum Beispiel beim Lernen: „Wenn wir gelernt hätten, das Lernen an unserer eigenen Zeitnatur orientiert zu organisieren, dann hätten wir ein Gefühl dafür entwickelt, wann der richtige Zeitpunkt dafür ist. Kann ich jetzt eigentlich lernen, bin ich aufnahmefähig und konzentriert? Aber dieses Wissen und dieses Gefühl fehlen uns.“ 

Eigenen inneren Rhythmus finden

Was kann helfen, die vielen Zeitentscheidungen, die wir treffen müssen, gut hinzubekommen? Der Zeitforscher verweist auf den inneren Rhythmus: „Ich muss wieder zurück zum Zeitgeber des eigenen Körpers und in mich hineinhorchen, wann ist es gut. Danach muss ich mich richten und immer weniger nach der Uhr, die standardisierte Vorgaben macht, die nicht übereinstimmen mit meinem Wohlbefinden.“ Aber lässt sich das im Rahmen eines normalen Arbeitsalltags ansatzweise verwirklichen? Da ist der Zeitexperte klar: Wer zufrieden sein will mit seiner Zeit, muss in einer Gesellschaft, die nach Prinzipien der Industrie organisiert ist, in Urlaub fahren. Und damit ist geklärt, warum Urlaub kein Luxus ist und warum die Sehnsucht nach Auszeiten so stark ist: „Wir sehnen uns nach Zeit-Alternativen in unserer über Geld organisierten Zeit“.

Mehr Platz für eigene Zeit lässt sich nur über Verzicht freibekommen: „Ich kann sowieso nicht alles erleben, also muss ich verzichten, ignorieren, übersehen.“, betont Geißler. Das müsse neu geübt werden. Eine gute Vorlage dafür seien Verzichtszeiten im Kirchenjahr, wie der Advent und Fastenzeit in ihrer ursprünglichen Form. Das Fazit des Zeitforschers: „Ich kann nur jedem empfehlen in seinem Leben, oder jedes Jahr auch Phasen zu haben, wo man versucht, die Zeit auf sich zukommen zu lassen und sie nicht organisiert.“

Die Autorin
Gabriele Hafner
Radio-Redaktion
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