Achtsamkeit und Spiritualität

So steigen Sie aus dem „Hamsterrad“ aus

Viele Menschen haben das Gefühl, dass ihr Leben an ihnen vorbeirauscht. Theologe und Achtsamkeitslehrer Michael Seitlinger gibt Tipps wie es gelingt, sich aus der Tretmühle zu befreien.

Die Einkehr konfrontiert mit der eigenen inneren Unruhe. © fran_kie - stock.adobe.com

Das Gefühl, in einem Hamsterrad zu stecken, in dem man gleichsam von Erledigung zu Erledigung springt und keine Ruhe findet, gehört für viele Menschen heute über weite Strecken fast schon zum normalen Lebensgefühl. Dass das – auf Dauer jedenfalls – nicht gesund sein kann, ja sogar im medizinischen Sinn krank machen kann, braucht eigentlich kaum eigens erklärt zu werden“, sagt Theologe Michael Seitlinger. Er leitet bei der Katholischen Erwachsenenbildung in der Erzdiözese München und Freising das Forum Achtsamkeit und Stressbewältigung. Außerdem unterstützt er als freiberuflicher Meditations- und Achtsamkeitslehrer, Coach und Supervisor sowohl Einzelne als auch Teams dabei, bewusster mit ihren eigenen Ressourcen umzugehen.

Dass Menschen das Gefühl hätten, in einer Tretmühle zu leben und dass ihr eigenes Leben an ihnen vorbeirausche, das kennt Seitlinger aus vielen Gesprächen. Das liege nun aber nur zu einem Teil an einer vielleicht zu großen Menge an Aufgaben im Beruf oder im Privatleben. „Es hat vor allem mit der inneren Haltung zu tun, dem Gefühl des Getrieben-Seins und Machen-Müssens, befeuert von hartnäckigen stresserzeugenden Gedanken“, erklärt er. Damit würden sich diese Menschen im Karussell der Aktivitäten und Gedanken verlieren und von der nährenden Verbundenheit mit dem unmittelbar spürbaren, gegenwärtigen Leben abkoppeln.

Meditation kein direkter Wellness-Weg

„Viele Menschen haben eine ganz große Sehnsucht danach, mehr bei sich zu sein oder auch einmal gar nichts tun zu müssen. Solche Erfahrungen der Unterbrechung können den Blick wieder weiten für die innere Mitte und den tragenden Grund des Lebens“, weiß Seitlinger. „Eine Fähigkeit zum Bei-sich-Sein kann jeder Mensch entwickeln“, betont der Theologe, der selbst seit über 30 Jahren meditiert. Ein direkter Wellness-Weg ist diese Übung allerdings nicht, zumindest zunächst einmal. Die Einkehr konfrontiert einen nämlich mit der eigenen inneren Unruhe und Getriebenheit – eine herausfordernde Angelegenheit. Durch diese Art von Selbsterkenntnis hindurch aber kann sich die Türe öffnen für einen heilsamen Raum der Gegenwart.

Den eigenen Körper spüren

„Sich ruhig hinsetzen, den Körper wahrnehmen, dem Atem folgen, auftauchende Gedanken erkennen und weiterziehen lassen, einfach da sein dürfen – das kann zu einer heilsamen Erfahrung vertiefter Gegenwärtigkeit führen“, erklärt Seitlinger, der auch MBSR-Lehrer ist. Die Abkürzung steht für „Mindfulness-Based Stress Reduction“ nach dem amerikanischen Verhaltensmediziner Jon Kabat-Zinn. Im Deutschen ist dieses Übungskultur als „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ bekannt.
Wie wirkt MBSR? „Achtsamkeit eröffnet einen Raum innerer Bewusstheit und Ruhe“, erklärt Michael Seitlinger und ergänzt: „Das bedeutet zunächst eine Stärkung der Fähigkeit, sich im eigenen Körper zu spüren und bei sich anzukommen. Verbunden mit dieser inneren Präsenz ist eine wohlwollende, mitfühlende Haltung sich selbst und anderen gegenüber.“

Damit wachse eine heilsame Bewusstheit gegenüber den eigenen seelisch-geistigen Impulsen und Reaktionen, die das Leben im gewöhnlichen Alltagsgeschehen leiten. Lebensverengende und stresserzeugende Muster könnten so erkannt und unterbrochen werden. „Achtsamkeit kann zu mehr Lebendigkeit führen und positive Auswirkungen auf die eigene Gesundheit haben“, betont Seitlinger. Wissenschaftliche Untersuchungen hätten dies mehrfach bestätigt.

Sich für die Gegenwart Gottes öffnen

Für Seitlinger berührt die Achtsamkeitspraxis ganz wesentlich auch das religiöse Erleben. Wer still wird, öffnet sich für die Gegenwärtigkeit Gottes, auch wenn das oft anders benannt wird. Mit dem eher säkularen Begriff „Achtsamkeit“ können auch Menschen einen Zugang zu Spiritualität finden, die Vorbehalte gegenüber Religionsgemeinschaften oder der Kirche haben. „Auch sie suchen die heilsame Erfahrung von vertiefter Gegenwärtigkeit. Gott ist dabei präsent, ohne dass man sich ausdrücklich auf ihn bezieht. Wenn sich Menschen auf diese Übungspraxis einlassen, dann können sie Gott berühren und von ihm berührt werden, ohne dass sie ihn so nennen. Das kann auch ihre Wahrnehmung von Religion und Kirche zum Positiven hin verändern“, meint Seitlinger.

Beten und Schweigen

Die christliche Tradition kennt den spirituellen Weg der Mystiker, die sich in einem Prozess vertieften Betens, Schweigens und Leerwerdens für die Erfahrung der Gegenwart Gottes öffnen. Texte etwa von Meister Eckhart über Theresa von Ávila, Edith Stein bis zu den christlichen Zen-Lehrern unserer Tage geben beredt Zeugnis davon. Die eher säkulare Achtsamkeitspraxis hat dabei sogar den Vorteil, dass sich die Übenden direkt auf einen vertiefenden Erfahrungsweg einlassen können ohne die Stolpersteine vielfach fragwürdiger oder unverständlich gewordener religiöser Vorstellungen.

Aus dem „Hamsterrad“ zu entkommen, ist nicht leicht und zugleich einfach, denn es gehe darum, einfach zu werden. Jeder hat nach der Erfahrung Michael Seitlingers die Fähigkeit, sich auf diesen
Weg zu begeben. Manche brauchen dazu vielleicht erst einmal eine Anleitung, zum Beispiel beim Forum Achtsamkeit der Katholischen Erwachsenenbildung in der Erzdiözese.