Von Pipping nach Pasing

Suche nach dem Kreuz: Münchner Stadtspaziergang

Wer im Münchner Westen von Pipping nach Pasing pilgert, der sucht größtenteils vergeblich nach christlichen Symbolen in einer ursprünglich katholisch geprägten Stadt.

Sankt Hildegard in Pasing © SMB/Burghardt

Wer sich in Pipping die Ohren zuhält, mag sich kurz irgendwo im ländlichen Oberbayern wähnen: Der kleine Weiler steht als geschütztes Ensemble da, das Kirchlein mit dem spitzen Turm bildet einen freundlichen Blickfang, und nur einen Steinwurf entfernt plätschert die idyllische Würm. Öffnet man die Ohren dann wieder, kehrt man schnell in die Wirklichkeit zurück, die vom Motorengedröhn der hoffnungslos überlasteten Pippinger Straße, einer Verkehrsader im Münchner Westen, geprägt ist. Pipping ist längst vollständig von München umschlossen – ein kleines, kurioses Relikt aus alten Zeiten, das den Bestand gewahrt hat, während rundherum ein anderer Ort zur Millionenstadt herangewachsen ist und den Ring geschlossen hat.

Tor in eine andere Zeit

Wer die Pippinger Kirche St. Wolfgang zu den seltenen Öffnungszeiten aufsucht, wird im Inneren empfangen von einem gotischen Gesamtkunstwerk mit mittelalterlichhöfischem Gepräge. Von einer Kanzel mit geländerloser Steintreppe über kostbare Holzfiguren vom Stile Erasmus Grassers bis hin zu eindrücklichen Wandfresken und kaum entzifferbaren Inschriften – St. Wolfgang ist wie ein Tor in eine andere Zeit. Die Glocke wird hier noch per händischem Seilzug geläutet – aber nicht mehr oft, da seit Corona keine Gottesdienste mehr stattfinden, höchstens ab und zu eine Hochzeit oder Taufe, wegen der schönen Kulisse. Die alten Kunstschätze können professionell gepflegt werden, für den bröckelnden Glauben hingegen scheint noch kein Restaurator gefunden…

Städtische Wirklichkeit

Nun trete ich aus diesem pittoresken Zufluchtsort hinaus in die Münchner Gegenwart und habe vor, zu einer anderen, ganz modernen Kirche – St. Hildegard in Pasing – zu wandern. Unterwegs will ich Ausschau halten nach Fundstücken aller Art und vor allem: nach der städtischen Wirklichkeit. Nach einem kurzen Auftakt entlang der Blechlawinen auf der Pippinger Straße tauche ich in die Pasinger Villenkolonie II ein, die in den 1890er Jahren angelegt wurde. Sofort umfängt mich die tiefenentspannte Ruhe einer verkehrsarmen Gartenstadt, in der sich ein wohlhabendes Schlösschen an das andere reiht. In der Lützowstraße geht man direkt auf der Fahrbahn, da es keine Gehwege gibt – was eher wie ein Luxus als wie eine Mangelerscheinung wirkt, denn es herrscht sowieso kein Verkehr. Die linker Hand gelegene Riemerschmid-Villa verrät früheren Lifestyle, ein geparkter weißer Tesla den heutigen. 

Doch schnell ändert sich die Szenerie: Im benachbarten Neulangwied, das teils noch keine 15 Jahre alt ist, führt der Weg an modernen Schulkomplexen und dem riesigen Abstellbahnhof Pasing West entlang. An Käfige erinnernde eingezäunte Basketballfelder und die für Bahnanlagen so charakteristischen halbwilden Grünstreifen dominieren diesen Wegabschnitt. Erst bei der S-Bahn-Haltestelle Langwied ermöglicht eine Unterführung, auf die andere Seite der riesigen Gleisanlage zu wechseln. Das nutze ich und finde mich in Aubing-Ost wieder, einer gemütlichen Einfamilienhaus-Siedlung aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Gigantische Wohnkomplexe

Kurz darauf erreiche ich die Hochhäuser der Siedlung „Am Westkreuz“, und wieder ist nichts wie zuvor. Auf diesen Flächen zwischen Aubing und Pasing, die noch bis in die 1960er Jahre freies Ackerland waren, entfaltet sich die ganze monströse Ödnis des modernen Städtebaus – zwar mit vielen Bäumen, aber eben auch mit gigantischen Einkaufszentren und nicht weniger gigantischen Wohnkomplexen, allen voran dem 138 Meter langen und 55 Meter hohen „Ramses“ mit seinen 343 Wohneinheiten. 

Bei der S-Bahn-Haltestelle Westkreuz kreuze ich schon die dritte Bahnlinie auf meiner heutigen Tour, damit befinde ich mich nun in Pasing und auf der Schlussetappe zu meinem Ziel St. Hildegard. Plötzlich fällt mir etwas auf. Ich stutze, gehe gedanklich noch einmal die zurückgelegte Strecke durch und bemerke: Ich habe während des gesamten Stadtspaziergangs seit Pipping kein einziges christliches Symbol gesehen. Keine Kirche oder Kapelle, kein Wegkreuz, keine Fassadenmalerei, keine Madonnenfigur – nur immer wieder mahnende Schilder „Privatweg – Betreten verboten“ oder „Kein Durchgang“. Zur Pfarrkirche St. Lukas am Westkreuz, die in der Nähe meines Wegs lag, war mir die Sicht versperrt – wie viele neuere Kirchen dominiert sie nicht mit einem Turm ein ganzes Stadtviertel, sondern verbirgt sich inmitten von Hochhäusern. Ich bin also durch München gewandert und habe nirgendwo Hinweise darauf gesehen, dass ich mich in einer ursprünglich katholisch geprägten Stadt befinde.

Kreuz im Häusermeer 

Nun, auf den letzten Metern, wird sich das vielleicht doch noch ändern: Ein kleines Kapellen-Symbol in der Karte verrät mir, dass offenbar noch ein Gotteshaus auf meinem Weg liegt. Gespannt, was für eine Art Kapelle mich erwartet, gehe ich hin und staune nicht schlecht, als ich vor der Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten stehe…Nun aber schnell weiter, und siehe da: Auf einmal ragt ein Kreuz aus dem Häusermeer empor! Kurz darauf stehe ich voller Freude im Vorhof von St. Hildegard und mache mir ein erstes Bild von dem modernen Kirchenbau, während sich allmählich Fragen herauskristallisieren. In dieser Stadt, in dieser Zeit – wie steht es da um Sichtbarkeit und Ausdrucksmöglichkeiten der christlichen Botschaft? Wie viel „Ort“ und wie viel Öffentlichkeit braucht der Glaube eigentlich? (Joachim Burghardt)

Der Redakteur
Joachim Burghardt
Münchner Kirchenzeitung
j.burghardt@michaelsbund.de