Münchner Erzbischof über die Bibel

Kardinal Marx ist eine „Leseratte“

Im Magazin „Treffpunkt Bücherei“ des Sankt Michaelsbundes spricht Kardinal Marx über die Bibel. Er ist überzeugt, dass auch in einer "Smartphone-Kultur" Kinder und Jugendliche noch an die Bibel herangeführt werden können.

Kardinal Reinhard Marx bezeichnet sich selbst als "Leseratte": (Archivbild, 2017) © KNA

Welche Geschichte oder welcher Abschnitt aus dem Alten oder Ersten Testament steht Ihnen besonders nahe?

Kardinal Reinhard Marx: Ich gebe zu, dass ich meine Probleme mit Lieblingsgeschichten, -liedern, -gedichten habe, dafür ist mein Kopf zu voll von immer neuen Erfahrungen mit Texten, Bildern, Musikstücken. Ich möchte fast sagen, ich verliebe mich auch in Bibelstellen immer neu. Das Alte Testament ist ja voll wunderschöner Literatur, die Väter- und Müttergeschichten, die prophetischen Texte, die Poesie und Gebetskraft der Psalmen!

Eine Stelle kann ich einmal herausgreifen, die mich immer wieder berührt, auch gerade in den aktuellen Umbrüchen. Es ist in Genesis 15 die Vertiefung und Erneuerung des Bundes Gottes mit Abram: Abram kann zunächst nicht an die Verheißung Gottes glauben und daran, dass er in seinem Alter Nachkommen haben wird. Und der Herr „führte ihn hinaus und sprach: Sieh doch zum Himmel hinauf und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst! Und er sprach zu ihm: So zahlreich werden deine Nachkommen sein. Und er glaubte dem Herrn und das rechnete er ihm als Gerechtigkeit an.“ (Gen 15, 5f.) Das Hoffen und Glauben wider alle sichtbaren Zeichen der Hoffnung: Das tröstet und ermutigt mich. Ein unglaublich starker Text!

Welche Bedeutung hat für Sie der erste Teil der Bibel, der ja auch die Bibel des Gottesvolkes Israel ist, für Ihr Verhältnis zum Judentum?

Marx: Wir können Jesus von Nazareth nicht verstehen ohne das Alte Testament, ohne die Tora. Und deswegen ist auch ohne eine gute Beziehung und intensive Kenntnis des Judentums ein Verständnis Jesu, der als gläubiger Jude gekreuzigt wurde und gestorben ist, nicht möglich. Das Alte Testament war die Bibel Jesu. Wenn im Neuen Testament von der Schrift die Rede ist, dann ist das Alte Testament gemeint. Das wird oft vergessen. Auch Paulus kennt ja noch nicht die Evangelien. Er beruft sich auf die Schrift, also auf das Alte Testament, und auf das, was er gehört hat von diesem Jesus aus Nazareth. Deswegen ist es äußerst bedeutsam für den Glauben, für die Theologie und für das Verständnis der Person Jesu.

Erst seit meinem Studium bin ich in das konkrete Gespräch mit dem Judentum gekommen, etwa bei Begegnungen im Heiligen Land oder in Deutschland. Ich habe Tagungen veranstaltet mit Pinchas Lapide in Dortmund und schon als Seminaristen hatten wir ihn nach Paderborn eingeladen. Damals hat er eine Ansprache zum „Vater Unser“ gehalten, ein Gebet, das er genauso sprechen kann.

Für wie wichtig halten Sie die Bibel für die Lesekultur und das kulturelle Bewusstsein heute? Was würde ohne dieses Buch fehlen?

Marx: Die Bibel ist kein Buch, sondern eine Bibliothek mit vielen Büchern aus unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlichen Textgattungen. Ganz am Anfang steht schon etwas Wichtiges, ohne das wir unsere Kultur, ja unsere Demokratie, auch unsere moderne Zivilisation gar nicht verstehen können. In Genesis 1,26f. heißt es: „Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich! (…) Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie.“ Das bedeutet: Alle Menschen sind von gleicher Würde und wir gehören zu einer einzigen Menschheitsfamilie. Gott ist der Vater aller Menschen. Das ist eine universelle, revolutionäre Botschaft, die Grundlage auch für unser Miteinander heute. Unsere kulturelle und politische Welt können wir ohne diese Bibliothek nicht verstehen.

Unsere Kulturtechniken – zu erzählen, über Texte zu sprechen –, hängen grundlegend zusammen mit Judentum und Christentum. Wenn Glaube und Bibel vollständig aus Öffentlichkeit, Schule, Kultur und Bildungsprogrammen verschwänden, wäre das eine Gesellschaft, die ich mir nicht wünschen kann.

Was braucht es Ihrer Meinung nach, um insbesondere Kinder und Jugendliche an die Bibel heranzuführen?

Marx: Ich glaube, dass auch in einer „Smartphone-Kultur“ die „alten“ Formen noch immer Kinder und Jugendliche anziehen: lebendig erzählen, spannende Geschichten vorlesen, und soweiter. Es geht auch um die Lesekultur insgesamt: Wie können wir Kinder und Jugendliche zu Leserinnen und Lesern heranbilden? Wie können wir zum Beispiel auch in den sozialen Medien die Bibel interessant präsentieren und die Geschichten der Bibel lebendig erzählen? Dafür gibt es sicher viele Möglichkeiten, aber dafür bin ich kein Experte. Ich möchte aber dazu ermuntern, sich darüber Gedanken zu machen und das kreativ anzugehen. Im Übrigen gilt das nicht nur für Kinder und Jugendliche: Auch für Erwachsene sollte es wichtig sein, zu lesen. Ich bin in meinem ganzen Leben eine „Leseratte“ gewesen und immer geblieben. Dafür bin ich dankbar. Das erweitert nach wie vor meinen Horizont und meine Fantasie.

Mit welchem Kern an biblischen Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament würden Sie beginnen, um junge Menschen mit der Heiligen Schrift bekannt zu machen?

Marx: Da bin ich mir nicht sicher; aber es kommt wohl auf die jeweilige Gruppe an: Kommunionkindern erzähle ich vielleicht die Schöpfungsgeschichte und davon, dass Gott der Vater aller Menschen ist und das Gute will. Für Jugendliche, die ihre ersten Liebesgeschichten schon vor oder gerade hinter sich haben, mag das Hohelied der Liebe ein starker poetischer Text sein. Und wer es dann noch schafft, das Verstehen dafür zu weiten auf die Liebe zwischen Gott und seinem Volk, hätte doch etwas erreicht. Für Erwachsene wäre vielleicht die Exodus-Geschichte als Motiv der Befreiung aus der Sklaverei ein Bezugspunkt oder auch die Sozialkritik der Propheten Amos und Hosea; man könnte sie vergleichen mit aktuellen Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Das sind nur einige ganz spontane Gedanken von mir. Alle, die in Seelsorge, Bildung und Verkündigung tätig sind, haben dazu viele Erfahrungen, kreative Ansätze und innovative Überlegungen. Es wäre auch schön, wenn es in den Pfarreien noch mehr Gruppen gäbe – möglichst aus allen Generationen gemeinsam – die kreativ und interessiert die Bibel lesen und sich darüber austauschen. Das würde ich mir wünschen. Und dazu könnte auch die Büchereiarbeit einen wichtigen Beitrag leisten. (smb)

 

Podcast-Tipp

Ein Buch

Jede Woche eine neue Buchempfehlung, entdeckt und sorgfältig geprüft von zwei begeisterten Leserinnen. Susanne Steufmehl und Gabie Hafner auf der Suche nach guten Büchern. Was lohnt sich zu Lesen - Geheimtipp oder Bestseller? Auf den Punkt, durchdacht und unterhaltsam. Ein Podcast für Lesehungrige und alle, die nach Buchtipps gefragt werden.

> zur Sendung