Leseförderung international

Kirchliche Bücherei schafft 150 ukrainische Medien an

Ehrenamtliche im Norden von München kümmern sich um Lesestoff für Flüchtlinge, vor allem für Kinder.

Der neunjährige Kiprian aus Kiew muss sich zwischen einer ukrainischen Harry Potter-Ausgabe und einem Deutschlehrbuch entscheiden. © SMB/Bierl

München-Schwabing - Kiprian liebt Dinoaurier. Und wenn die in einem Winterbuch auftauchen, dann liest er das auch im Hochsommer. „Risdwosawr“, also Weihnachtssaurier, steht in kyrillischen Buchstaben auf dem Umschlag. Sein Bruder Kyrylo hat sich eine Geschichte über zwei Mäuse ausgesucht „Manuel i Didi“. Die eine liest ein Buch, aus dessen Seiten die andere Papierflieger bastelt und lernt, dass Bücher dafür viel zu schade sind.

Über eine Stunde lang waren sie mit Bus, S-Bahn und U-Bahn unterwegs, um in die kirchliche Bücherei der katholischen Pfarrei Allerheiligen und der evangelischen Nikodemusgemeinde in München-Nordschwabing zu kommen. „Es ist die einzige Bücherei, in der es ein größeres Angebot an Kinderbüchern in ukrainische Sprache gibt“, sagt Mama Nataliia Chychuk, während Kiprian gerade einen Harry-Potter-Band vom Regal nimmt.

Leser kommen von weither

Deshalb begleitet sie ihre neun und sieben Jahre alten Söhne gerne auf dem langen Weg nach Nordschwabing: „Bücher sind doch ein Teil der Seele.“ Auf ihrer Flucht aus dem bombardierten Kiew hat sie aber keine mitnehmen können. So schnell musste sie im Frühjahr die Stadt verlassen. Ihr Mann ist in der Heimat geblieben und Soldat im schwer umkämpften Donbass-Gebiet. Der Büchereibesuch ist ein Ruhepol für die kleine Familie, die sich um den Vater sorgt.

Über 150 Bände Kinderliteratur in ukrainischer Sprache und einige Spiele sind in zwei Regalen zu finden. Offenbar hat das kaum eine andere Bibliothek zu bieten. Bis aus Murnau, Ingolstadt oder Fürstenfeldbruck kommt die Leserschaft. Nataliia Chychuk war die erste, die sofort auf die Facebook-Einträge von Anna Demchenko antwortete, mit denen sie auf das Angebot aufmerksam macht.

Lesen hat hohen Stellenwert in der Ukraine

Die gebürtige Ukrainerin mit russischen Wurzeln arbeitet im Vertrieb eines Autoherstellers und lebt seit rund 20 Jahren in Deutschland. Und sie weiß, wie wichtig ihren Landsleuten Bücher sind: „Lesen hat einen sehr hohen Stellenwert bei uns.“ Sie selbst kommt regelmäßig zur Ausleihe in die ehrenamtlich geführte kleine Bücherei direkt neben der Allerheiligenkirche.

Dort ist sie sofort auf offene Ohren gestoßen, als sie einen Bestand mit ukrainischen Büchern vorgeschlagen hat. Innerhalb weniger Wochen war er besorgt, eingebunden und katalogisiert. Einen erheblichen Teil hat Anna Demchenko aus eigener Tasche bezahlt. Der katholische Büchereifachverband Sankt Michaelsbund hat nun 2.000 Euro aus Sondermitteln für den weiteren Einkauf ausgeschüttet.

Bücher schenken Trost

Eine aus der Ukraine geflohene Lehrerin und Expertin für Kinderliteratur stellt dafür Listen mit Titeln zusammen: „Es ist eine enorme Nachfrage vorhanden und wir wollen jetzt Bücher vor allem für ältere Kinder, aber auch für Erwachsene anschaffen“, sagt Anna Demchenko, als sich gerade ein kleines Mädchen ein Bilderbuch aus dem Regalbrett holt. „Ja ljublju tebe, Tatu“, ich liebe dich, Papa, steht auf dem Umschlag.

Eine Geschichte über einen kleinen Bären, der bei seinem Tatu Geborgenheit findet, sich an ihn schmiegt und weiß, dass sie immer aneinander denken. Es ist oft ausgeliehen, besonders vor dem Zubettgehen möchten es Kinder vorgelesen haben, lassen einige ukrainische Büchereibesucher durch Anna Demchenko übersetzen. Es sei ein wichtiges Buch für die Buben und Mädchen, um mit der Sehnsucht nach ihren Papas zurecht zu kommen, die weit weg und in Gefahr sind.

Bücherei soll ein bisschen Heimat sein

Auf der Ausleihkarte stehen zwar weder Titel noch Autor, aber die ISBN-Nummer, die auf dem Umschlag des Bilderbuches zu finden ist. Damit lässt sich das Buch einsortieren, ausgeben oder auch anmahnen, wenn die Leihfrist überzogen wird. So helfen sich die Bücherleiterinnen Gabi Conrad und Sabine Pasti beim Verwalten des ukrainischen Medienbestandes. Kaum jemand unter den Mitarbeitern kann die kyrillische Schrift lesen oder schreiben, aber durch den Kniff mit den ISBN-Nummern klappt die Ausleihe ohne Schwierigkeiten.

„Mittlerweile haben wir 30 ukrainische Familien mit je zwei bis vier Angehörigen in der Kartei“, sagt Sabine Pasti. Meistens kommen sie am Sonntag, denn auch dann hat die kirchliche Bücherei geöffnet, so dass die schulpflichtigen Kinder Zeit haben zu kommen. Gabi Conrad hat gerade ein paar Süßigkeiten für sie bereitgestellt: „Die Bücherei soll ein bisschen Heimat für die ukrainischen Familien sein.“

Hoffnung auf Wiederaufbau in der Heimat

Sie kämen auch deshalb, um hier Landsleute zu treffen, Informationen oder Adressen auszutauschen und aus ihren Unterkünften herauszukommen. Nataliia Chychuk und ihre Buben kommen auch deshalb so gerne her, „weil wir merken, mit wie viel Liebe die Mitarbeiterinnen die Bücher einbinden, alles pflegen und uns willkommen heißen“. Das werde sie immer im Herzen behalten, auch wenn sie wieder in der Ukraine ist.

Sie will so bald wie möglich in ihre an so vielen Orten zerstörte Heimat zurückkehren. Wann das sein wird, vermag niemand zu sagen. Anna Demchenko will jedenfalls den ukrainischen Medienbestand in Allerheiligen-Nikodemus weiter ausbauen und hofft, dass andere Bibliotheken das Beispiel aus Nordschwabing nachahmen. Und wenn der Krieg endlich vorbei sein sollte, „können wir diese Bücher hoffentlich nachhause bringen, wo so viele Büchereien zerbombt sind und die wir wieder aufbauen möchten“.

Auch das Exemplar von „Ja ljublju tebe, Tatu“ könnte dabei sein, dass das kleine Mädchen jetzt ausleiht. Und vielleicht kann sie es irgendwann in der Ukraine gemeinsam mit ihrem Papa anschauen – je eher, desto besser.

Der Autor
Alois Bierl
Chefreporter Sankt Michaelsbund
a.bierl@michaelsbund.de