Weihnachtstext

Marx: "Ein frohmachendes Weihnachtsfest und Frieden auf Erden!"

Kardinal Marx richtet in seinem Weihnachtstext für die Münchner Kirchenzeitung Worte des Mitgefühls an die Leserinnnen und Leser. Trotz Krieg und Krisen ermutigt er zur Menschlichkeit und erinnert an den Kern der Weihnachtsbotschaft: dass mit dem Christuskind der Retter auf die Welt gekommen ist, der Friedensbringer.

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„Stell‘ dir vor, es gäbe kein Himmelreich. / Es ist ganz einfach, wenn du es versuchst. / Keine Hölle unter uns. Über uns nur der Himmel. // Stell‘ dir vor, alle Menschen leben nur für das ‚Heute‘. / Stell‘ dir vor, es gäbe keine Länder. / Es ist nicht schwer, das zu tun. / Nichts, wofür es sich lohnt zu töten oder zu sterben. / Und auch keine Religion. // Stell‘ dir vor, alle Menschen / leben ihr Leben in Frieden.“ Sie haben das Lied vielleicht längst erkannt: „Imagine“ von John Lennon. 1971 veröffentlicht und nach über 50 Jahren aktuell wie eh und je. Es steht vermutlich auf jeder Liste der berühmtesten Friedenslieder. Im Central Park in New York ist ganz in der Nähe der Stelle, an der John Lennon ermordet wurde, ein Erinnerungsort: „Strawberry Fields“. Dort ist im Boden ein schwarz-weißes Mosaik mit sternförmigem Muster eingelassen. In dessen Zentrum steht nur ein Wort: „Imagine“.

Als ich vor einigen Jahren selbst dort war, hat mich das beeindruckt und berührt. In aller Schlichtheit ist mitten im trubeligen New York ein Ort der Ruhe entstanden. Das Mosaik führt in einen Teil des Central Park, den „Friedensgarten“, in dem Bäume, Sträucher und Pflanzen, die aus aller Welt gestiftet wurden, als ein wachsendes, sich veränderndes Denkmal angelegt wurden. Über die Jahrzehnte verändert sich der Erinnerungsort, der als sogenannte „quiet zone“ deklariert ist, also als einen Bereich, in dem alle Besucherinnen und Besucher sich leise und ruhig verhalten sollen.

Ist der Mensch nicht fähig, den Frieden zu bewahren?

„Imagine“ das ist ein Synonym geworden für die manchmal auch als naiv kritisierte Sehnsucht und Hoffnung auf Frieden in der ganzen Welt, auf Einheit der Menschheitsfamilie und auf Verständigung, für den tatkräftigen Einsatz für Frieden, das prophetische Mahnen zur Versöhnung. Ist denn wirklich kein Frieden möglich? Das muss es doch geben können! Auch wenn es immer Gründe geben wird für Auseinandersetzung, für Streit und für Krieg – die ganz oft auf Egoismen, Machtstreben, ökonomischen Motiven beruhen – ist es doch im Letzten nicht begreifbar, dass wir Menschen das Kostbarste, nämlich das Leben selbst, auf so dumme und brutale Weise immer wieder zerstören.

Das haben wir in diesem Jahr so bitter erfahren wie seit vielen Jahrzehnten nicht. Frieden ist auch in Europa nicht unzerstörbar. Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 wurde diese europäische Idee, die wir eigentlich doch für selbstverständlich genommen haben, aufs Spiel gesetzt. Europa als Friedensprojekt zu verstehen hat seine Ursprünge ja gerade im Wahnsinn des Krieges, in dem, was wir aus dem Zweiten Weltkrieg gelernt haben. Und es geht dabei nicht nur darum, dass wir uns in Europa friedlich gesonnen sind und dass von keinem europäischen Land je wieder Krieg ausgehen soll. Sondern das Friedensprojekt Europa soll in alle Welt ausstrahlen, dass Feindschaft überwunden werden kann und Versöhnung möglich ist.

Religion darf nicht instrumentalisiert werden

Das ist der Friedensbeitrag Europas für die Welt. Die Friedensbewegungen haben über all die Jahrzehnte immer wieder daran gemahnt, diesen Frieden für alle Menschen zu fordern und zu fördern. Wir haben in diesem Jahr viel darum gerungen, ob zur Förderung des Friedens auch die Lieferung von Waffen gehören kann und die Entscheidung, das zu tun, wiegt schwer und ist auch noch keine Lösung. Sie muss sich orientieren am Streben nach wirklicher Versöhnung! 

Lennons Friedenssong ist aus gutem Grund, wie ich meine, auch nicht kritiklos gegenüber der Religion. Auch das Christentum hat nicht immer zum Frieden beigetragen, sondern war viel zu oft auch Grund für Krieg. Mit dem biblischen Auftrag und der Botschaft Jesu ist das nicht zu vereinbaren. Selbst den Gedanken John Lennons, dass es ohne Himmelreich auch keine Hölle gäbe, kann ich in gewisser Weise nachvollziehen. Es zielt für mich darauf ab, dass Religion – ganz grundlegend verstanden als Beziehung von Gott und Mensch – nicht instrumentalisiert und menschlichen Zwecken untergeordnet werden darf.

Im Gegenteil: Die Anerkenntnis des Himmelreiches als Ausdruck der Herrschaft Gottes begrenzt ja gerade das egoistische Streben und öffnet hin zum Mitmenschen. Religion darf nicht benutzt werden, um Streit, Gewalt und Krieg zu befördern, zur Kriegspartei werden, Fanatismus und Fundamentalismus schüren. Im Krieg Russlands gegen die Ukraine ist deshalb die Haltung der russisch-orthodoxen Kirche für mich und für viele Menschen weiterhin nicht hinnehmbar.

Die Hoffnung auf Frieden nicht aufgeben

Am Heiligen Abend werden vermutlich sehr viele Menschen in der Ukraine auch daran denken, dass der Krieg gegen sie und gegen ihr Land dann auf den Tag genau 10 Monate währt. Nicht mitgerechnet, dass der Kampf ohne Waffen schon früher begonnen hat. Für viele Ukrainerinnen und Ukrainer wird der Heiligabend auch ein schwieriger Tag sein. Gerade zu Weihnachten, wenn wir den Alltag unterbrechen und mit der Familie und Freunden gemeinsam feiern, rühren wir oftmals auch an die traurigen und schweren Momente. An Weihnachten fehlen uns die Menschen besonders, die in diesem Jahr gestorben sind. Krankheiten, Sorgen, Nöte und Ängste bedrücken uns oft besonders stark. Ich kann gut verstehen, dass sich viele Menschen auch in unserem Land angesichts der vielen Sorgen – steigende Energiekosten, Corona, persönliche Schicksale, Zukunftsängste – nach Leichtigkeit, nach Entspannung, nach Wohlfühlen und Ruhe sehnen.

Weihnachten kann ein Fest voller Harmonie, Glückseligkeit, Wohlgefühl, Dankbarkeit und Hoffnung sein. Und das wünsche ich jedem Menschen von Herzen! Die meisten gehen in diesem Jahr mit gemischten Gefühlen in das Weihnachtsfest und auf den Jahreswechsel zu. Die Sorgen und Zweifel werden begleitet von Hoffnung und Sehnsucht, dass die Zeiten wieder besser werden. Auch das besingt John Lennon: Bei allem Realismus, bei aller Klarheit für die Dinge unseres Weltgeschehens, bei aller Verzweiflung und allem Zorn, dennoch die Hoffnung nicht aufgeben nach Frieden, nach Freiheit und nach Gemeinschaft.

Gott ist Mensch geworden - ein Kind ist der Retter der Welt

Und das ist auch die zarte und zugleich starke Botschaft von Weihnachten, gerade weil sie der menschlichen Logik so widerspricht: Das Kind, das in größter Armut, in Angst vor Krieg und Verfolgung, zur Welt kommt, soll der Retter der Welt sein? Es ist doch nur ein Kind! Und dennoch hat sich mit der Geburt dieses Kindes die Welt für immer verändert: Gott ist Mensch geworden und in Jesus berührbar geworden. Im Kind von Bethlehem begegnet uns Gott. Auch uns heute.

Gott gibt uns selbst damit auch die Chance, uns an diesem Kind zu orientieren, das der Retter, der Friedensbringer, der Heiland ist, und immer wieder neu Mensch zu werden und Mitmensch zu sein. Mit diesem Kind ist die Zuversicht zur Welt gekommen, dass Gott uns nah ist und unser Schicksal teilt. Das Kind in der Krippe belebt unsere Sehnsucht nach Menschlichkeit und die Möglichkeit einer besseren Welt. ER ist da, und ER bleibt!

Diese Hoffnung wünsche ich Ihnen und allen, mit denen Sie verbunden sind. Ich wünsche Ihnen ein frohmachendes und gesegnetes Weihnachtsfest und für das kommende Jahr 2023 Frieden auf Erden!

Ihr
Reinhard Kardinal Marx