Meinung
Was kommt auf den Tisch?

Ernährung als Ersatzreligion

Veganismus, Low Carb, Rohkost, Intervallfasten – Ernährungskonzepte gibt es unzählige. In der Kontrolle ihrer Ernährung finden viele Menschen den Halt, den früher der Glaube gegeben hat.

Die Ernährung hat für viele Menschen die Religion ersetzt. © New Africa - stock.adobe.com

Kürzlich lief ein Bericht über „Das Dorf der Hundertjährigen“ auf der japanischen Insel Okinawa. Hier leben in einem 510-Seelen-Örtchen namens Ogimi mehr Menschen mit einer dreistelligen Kerzenzahl auf der Geburtstagstorte als in irgendeinem anderen Teil der Welt. Und fit scheinen sie obendrein zu sein. Das Phänomen wirft bei uns die Frage auf: Wie machen die das? Also wahrscheinlich schon mal ohne Geburtstagstorte. Dafür mit Seetang, Bittergurke und Shiitake-Pilzen. So lauten zumindest die Zutaten der in Fitnessmagazinen gepriesenen „Okinawa-Diät“.

Natürlich können es viele Faktoren sein, die den Menschen dort ein langes Leben bescheren. Da wir aber nicht – wie sie – einen gemächlichen, industriefreien Alltag zwischen Sandstränden und Korallenriffen am Ende der Welt erleben, interessiert uns vor allem die Ernährung. Denn darauf haben wir schließlich Einfluss. Hierzulande kommen wir an so ziemlich alles, was das Konsumentenherz begehrt – von Weizengraspulver bis Moringa-Tee. Dazu noch ein bisschen Joggen im Grünen, und schon winkt die gesunde 100 am Lebensende.

Auf der Suche nach irdischem Seelenheil

Warum das so wichtig ist? Weil Gesundheit im 21. Jahrhundert als höchstes Gut gehandelt wird. Ein langes Leben in körperlicher, geistiger und seelischer Fitness verspricht uns irdisches Seelenheil in einer Zeit, in der die Hälfte der über 60-Jährigen der Meinung ist: Nach dem Tod kommt nichts mehr. Und dabei bleibt offen, ob das nun die Weisheit der Älteren ist oder einfach Resignation. Mit dem Glauben schwindet die Hoffnung darauf, das höchste Gut im Jenseits zu finden. Also muss es im Diesseits erhalten werden.

Doch das Diesseits macht es uns nicht leicht. Im Angesicht von Dürren und Naturkatastrophen, Kriegen, Pandemien und sozialer Kälte kommt man nach der morgendlichen Zeitungslektüre schon mal ins Grübeln. Am Kühlschrank hängt der Spruch: „Kann mal jemand die Welt anhalten? Ich möchte aussteigen. Mir ist schlecht!“ Und schlecht ist irgendwie nicht gut. Was da so im Kühlschrank steht, sicherlich auch nicht. Zu viel Fleisch, gespritztes Gemüse, hochverarbeitete Softdrinks, gezuckerte Joghurts, Margarine mit Palmöl.

Essen als Sünde am eigenen Körper und an der Welt

Wirkt alles weder gesund noch nachhaltig, und so isst das schlechte Gewissen mit. Es ist klar, dass wir uns mit Fertig-Lasagne, Snacks to go und Instant-Tee keinen Gefallen tun. Bei Oma hat es besser geschmeckt und die stand stundenlang am Herd. Heute sind wir weiter vom Herstellungsprozess entfernt denn je und Inhaltsstoffe wie Hydroxypropylmethylcellulose oder kurz E464 wecken schale Erinnerungen an den Chemieunterricht. Zugleich wissen wir, dass die Nahrungsmittelindustrie das Klima wandelt und Süßwasservorräte dezimiert. Dass am anderen Ende unserer Lieferketten Menschen für Hungerlöhne schuften. Dass ein Drittel der Lebensmittel auf dem Transportweg verschwindet und viele weitere Tonnen – genau – in der Tonne landen. Uns ist bewusst, dass Avocado-Plantagen den Regenwald nicht ersetzen können und Burgerfleisch nicht unbedingt von glücklichen Almkühen stammt.

Wenn Essen zur Sünde wird – am eigenen Körper und an der Welt – ist es kein Wunder, wenn es in vielen Bäuchen zwickt und zwackt. Laktosefreie Milch und alternative Süßungsmittel verkaufen sich wie geschnitten Brot. Natürlich glutenfrei. Zu jeder Essenseinladung gehört mittlerweile die Abfrage von No-go-Lebensmitteln. Dabei sind Unverträglichkeiten nur bei vier Prozent der Deutschen wirklich nachgewiesen. Häufig steckt wohl eher die unbewusste Sorge dahinter, unsere Ernährung könne uns krank machen.

Ernährungsideologien geben Halt

Selbsternannte Gesundheits- und Ernährungsgurus predigen daher in offene Ohren: von den besten Lebensmitteln, der nachhaltigsten Zubereitung und den idealen Mahl-Zeiten. Frutarier essen vorrangig Fallobst, Rohkostler nur kalt und Intervallfaster nicht mehr nach 18 Uhr. „Alle Food-Trends versprechen universelles Heil“, sagt Kathrin Burger. In ihrem Buch „Foodamentalismus“ zeigt sie auf, wie schnell aus simplen Ernährungstipps Ideologien werden können. Da es diese zu verteidigen und zu verbreiten gilt, entbrennen selbst zwischen Vegetariern und Veganern Glaubenskriege.

Überraschend ist das kaum, denn es geht eigentlich um viel mehr als um Essen. „Menschen suchen nach einem Sinn im Leben, nach Orientierung und Zugehörigkeit in einer Welt, die immer unübersichtlicher wird“, sagt der Theologe Kai Funkschmidt. „Viele haben in unserer Gesellschaft das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Es gibt Millionen von Möglichkeiten, unser Leben zu gestalten, und für alle Erfolge und Misserfolge sind wir allein verantwortlich.“

Früher war viel mehr vorbestimmt. Die Menschen kannten ihren Platz, gehörten zu einer Familie, einer Schicht, einem Dorf, einer Zunft. Der Schuster blieb bei seinem Leisten, und was die Bauern nicht kannten, haben sie auch nicht gegessen. Eingebunden in die Kirchengemeinde, fest im Glauben, fanden die Menschen Halt und Struktur. „Es ist der Kern christlicher Lebensbewältigung, wenn ich daran glaube, dass Gott an meiner Seite steht. Wenn ich nicht alleine bin mit meinem Leid und allem, was ich nicht verstehe“, sagt Funkschmidt. Das fehlt heute vielen.

„Der Mensch ist, was er isst“

Auf der Suche nach einer Ersatzreligion ist es durchaus naheliegend, sich der eigenen Ernährung zuzuwenden. „Der Mensch ist, was er isst“, wusste schon der Philosoph Ludwig Feuerbach. Was man sich einverleibt oder auch nicht, hat eine besondere Bedeutung. Nicht umsonst kennt wirklich jede Glaubensgemeinschaft auf der Welt Speisegebote, reine und unreine Lebensmittel, Nahrungstabus oder Fastenzeiten. Und so terminieren die meisten, ob nun getauft oder nicht, ihre jährliche Saftkur noch immer vor Ostern.

Was aber ist nun der richtige Weg zwischen Vegetarismus und Veganismus, Low Carb und Clean Eating, Paleo und „ich ess’, was ich will“? Wie so oft wohl der goldene in der Mitte: einfach auf den eigenen Bauch hören, ohne dabei den Kopf auszuschalten. Indem wir bewusst einkaufen, unser Essen wertschätzen und unsere Mahlzeiten gemeinsam genießen. Ganz ohne unserem Nächsten dabei zu kritisch auf den Teller zu schauen. (Janina Mogendorf, freie MK-Mitarbeiterin.)