Birkenstein und Maria Birnbaum

Hoffnung und Heilung durch Wallfahrt

Wer denkt, dass Wallfahrten nur noch Relikte aus vergangenen Zeiten sind, der täuscht: Noch heute kommen jährlich viele Tausend Menschen etwa zu den Wallfahrtsorten Birkenstein und Maria Birnbaum.

Wallfahrtskapelle Birkenstein © Kiderle

Kaum steht Kurat Hans Schweiger an dem kleinen Lädchen vor der Wallfahrtskapelle Birkenstein, wird er prompt von einer Besuchergruppe umrundet und in ein Gespräch verwickelt. „Der Laden ist ein Sammelpunkt“, sagt Schweiger, „hier landen die Besucher, wenn sie aus der Kapelle kommen, und es entstehen Gespräche – deshalb hat er eine wichtige Bedeutung.“ Das offene Verkaufsfenster, hinter dem das Pächterehepaar die Kasse bedient, ist hinter den vielen Ständern und Kettchen, die am Rahmen aufgehängt wurden, kaum auszumachen. Die Ständer sind vollbehangen mit Anhängern, Plaketten, Kreuzen, Gebetskettchen und Postkarten. Was nicht hängen kann, steht daneben: Gebetswürfel, Tee, Magnete und unzählige Kerzen. „Geweihte Andachtsgegenstände“, erklärt Schweiger, nachdem sich die Besuchergruppe verabschiedet hat. Gegenstände, die Menschen mitnehmen, wenn sie den Wallfahrtsort Birkenstein in den Bayerischen Voralpen besuchen – als Erinnerung oder weil sie an deren besondere Wirkkraft glauben. 

Mutter Gottes im Traum

1663 soll der Pfarrer von Fischbachau an diesem Ort beim Beten in einen leichten Schlaf gesunken sein und einen Traum gehabt haben, in welchem ihm die Mutter Gottes erschien und die Errichtung einer Wallfahrtsstätte auftrug, mit den Worten: „Hier an diesem Orte will ich verehrt werden, und denen, die mich hier anrufen, meine Gnade mitteilen.“ 1710 wurde die kleine Kapelle in der Tradition der Loretokapellen errichtet – seitdem folgen regelmäßig Wallfahrerinnen und Wallfahrer dieser Aufforderung. 

Fast unscheinbar steht die kleine Kapelle mit ihrer hölzernen Balustrade und dem dunklen Vordach am Fuße des Breitensteins – eines beliebten Wanderziels – und versteckt ihre Schätze gut. Beim Betreten des kleinen Raumes überwältigt die Fülle an Bildnissen, Figuren und goldener Pracht auf kleinem Raum den Besucher im ersten Augenblick. Inmitten eines Meers von Engeln, Erzengeln, silbrigen Wolkengebilden und goldenen Blumenranken über dem Altar strahlt die gotische Marienfigur. Die roten Backsteinwände sind bis zum Chorgitter fast vollständig verdeckt von eingerahmten Votivtafeln und beinlangen Kerzen, teilweise hunderte Jahre alt, die von den Bitten an die Gottesmutter und Gebetserhörungen erzählen. Darauf zu sehen sind Krankheit, Unheil, Krisen – eine Frau, die von einem Balkon stürzt, Unfälle mit Pferdegespannen oder anderen Fahrzeugen, ganz aktuell auch überstandene Corona-Erkrankungen – die infolge einer Wallfahrt abgewendet oder überstanden wurden, so glauben die Spenderinnen und Spender.

"Mischung aus Natur und Tradition"

Wer denkt, dass diese Formen von Volksfrömmigkeit wegen der schwindenden Kirchenmitglieder nur noch eine verblassende Erinnerung an früher sind, täuscht sich: Noch heute kommen jährlich viele Tausend Menschen nach Birkenstein, erzählt der Wallfahrtsseelsorger. Ein junger Frater aus Weyarn hat seinen britischen Besuch mit zur Kapelle gebracht, will ihm die besondere Atmosphäre zeigen. „Schwer zu beschreiben – es ist eine Mischung aus Natur und Tradition. Hier ist es sehr ruhig, nicht so überlaufen“, sagt er und schaut dabei auf den Außenaltar, geschmückt mit Narzissen, an dem bei gutem Wetter die heilige Messe für die Wallfahrer gefeiert wird. Nur den angrenzenden Bach hört man rauschen, und hin und wieder die knirschenden Schritte der Wanderer, die sich auf den Weg den Berg hinauf machen. „Die Menschen kommen vorbei und setzen sich in die Kapelle“, sagt Schweiger. „Hier werden Leute erreicht, die sonst nicht erreicht werden – auch wegen der Lage direkt am Wanderweg.“ 

„Es ist ein Kraftort“, beschreibt Schwester Margret die Kapelle in Birkenstein. Sie ist eine der „Garser Schwestern“, die erst vor Kurzem an diesen Ort gezogen sind, um sich mit Schweiger die Aufgaben zu teilen, nachdem die Armen Schulschwestern sich zurückgezogen hatten. „Man spürt, dass hier über Generationen hinweg gebetet wurde.“ Als Seelsorger seien sie gefragt wie nie, berichtet Schweiger. „Auch trotz psychologischer Behandlung wollen die Menschen mit einem Priester sprechen.“ Manche der Besucher nehmen die Beicht- oder Gesprächsgelegenheit mit Pfarrer und Schwestern ganz spontan, teils nach Jahrzehnten zum ersten Mal wieder an. „Hier heißt es nicht: ‚Du musst.‘ Du kannst!“ Gerade die Schwestern böten eine niedrige Hemmschwelle, ins Gespräch zu kommen – so wie etwa an dem kleinen Lädchen neben der Kapelle. An die heilende Kraft des Ortes glaubt der Seelsorger, der seit zehn Jahren in Birkenstein arbeitet, schon: „Es ist vielleicht ein Zusammenspiel“, sagt er. Einmal spendete er einer Frau die Krankensalbung für ihr ungeborenes Kind, das mit einem offenen Rücken zur Welt kommen würde. Später wurde das Kind noch im Mutterleib von einem Spezialisten operiert – es kam gesund zur Welt.

Um einen Birnbaum herumgebaut

Ganz anders als die kleine Kapelle „mit Wohnzimmerfeeling“, wie es Schweiger scherzhaft beschreibt, zeigt sich die Wallfahrtskirche Maria Birnbaum in Sielenbach im äußersten Nordwesten des Erzbistums, die 1668 geweiht und kurzerhand um einen Birnbaum herumgebaut wurde. Auch hier kommen Wallfahrende hin, um die Mutter Gottes anzubeten. Der Kirchenraum wirkt im Vergleich zu der üppig geschmückten Kapelle in Birkenstein fast schlicht – obwohl die Wände mit aufwendigen Verzierungen bemalt sind und die Engel mit geschnitzten Gesichtern versehen wurden. 

Auch hier finden sich an den Wänden Tafeln, die wundersame Rettungen und Heilungen zeigen. Nicht so viele wie in Birkenstein. Einige von den ganz alten, erklärt der Wallfahrtsseelsorger und Leiter des Pfarrverbandes, Pater Norbert Rasim, wurden schlichtweg gestohlen. Was auffällt: Hier scheinen die Wallfahrer bei der Gestaltung ihrer Votivgaben – Anhänger und Ketten, selbstbeschriebene Tafeln oder auch gemalte Bilder – eine eigene, oft moderne Sprache gefunden zu haben, die sich von traditionellen Mustern unterscheidet. Um den Holzstamm des alten Birnbaums herum schrieben manche Besucher sogar direkt auf die hölzerne Rückwand des Altars. In der Vorsaison ist es in der Kirche ruhig. „Im Mai gehen die Wallfahrten los“, erklärt der Pater. Er gehört zum Deutschen Orden, der den Wallfahrtsort seit 1670 und nach einer rund 200-jährigen Unterbrechung seit 1998 nun wieder betreut.

Maria, die "mega" war 

Auch das Fürbittenbuch, eine Kladde auf einem kleinen Ambo im hinteren Teil der Kirche, zeugt von einer modernen Art des Glaubens und des Gebets. Wie auf den Votivtafeln ist in den handgeschriebenen Einträgen die Rede von Krankheit, Familie, Krisen. Ein Eintrag begeisterte den Pater besonders: „Da stand ungefähr: Danke, Mutter Gottes, du warst heute mega!“ Auch die Votivtafel ist in Birnbaum heute nicht unbedingt mehr ein klassisches Gemälde, das ein Künstler angefertigt hat. Zwischen dem Sockel einer Figur und der Wand steckt ein von beiden Seiten bunt bemaltes Blatt Papier: ein selbstgemaltes Bild eines kleinen Mädchens mit einem ganz persönlichen Wunsch, den die Mutter mit Kugelschreiber dazugeschrieben hat. Der Pater lächelt, als er es herauszieht und auffaltet. „Es ist ein Bruch in den Generationen zu erkennen: Die jüngeren Leute kennen die alten Traditionen nicht mehr und machen es eben auf ihre Weise.“ 

Aber auch in Maria Birnbaum gibt es die klassischen Wallfahrtsgruppen, die jedes Jahr kommen, und manche Traditionen, wie die Messe an den Faschingstagen, die seit 180 Jahren stattfindet, werden weiterhin gepflegt. Generell verändern sich die Besucher jedoch. Unter anderem wegen der bekannt gewordenen Missbrauchsfälle in der Kirche sind viele weg. „Die Menschen haben schon noch den Glauben, dass da etwas Unerklärliches ist – sie sind aber nicht mehr an einer Kirchengemeinschaft interessiert“, sagt Pater Norbert.

Sie bleiben in Maria Birnbaum auch gerne mal anonym – hinterlassen ohne Zeugen Votivgaben, legen die Beichte, wie auch in Birkenstein, lieber bei einem fremden Pfarrer ab. Die Vorstellung von einem Kraftort, wie es Schwester Margret beschrieben hat, scheint auch hier zuzutreffen. Der Pater beobachtet manche Besucher, die sich einfach nur in Ruhe in die Kirche setzen. „Wir spüren, dass an diesem Ort etwas anders ist – deshalb verhalten wir uns hier auch anders“, erklärt der Pater und verdeutlicht den Unterschied, indem er erst die langen, schnellen Schritte durch eine Fußgängerzone nachahmt und dann das ehrfürchtige Betreten einer Kirche.

"Der Hype ist vorbei" 

Wunderheilungen gebe es nicht mehr – „der Hype ist vorbei“. Kerzen, Postkarten oder andere Andachtsgegenstände nähmen die Leute hier schon nicht mehr mit. „Der Renner sind Christophorus-Plaketten, die die Großmutter dann für ihr 18-jähriges Enkelkind kauft und zum Schutz ins Auto legt.“ Von den Postkarten aber, prophezeit der Pater, müsse wohl nichts mehr nachbestellt werden. Andererseits erinnert sich Pater Norbert auch an einen kleinen Jungen, der auf dem Altar einen Dank an die Gottesmutter hinterließ. Drei Jahre hatte das Kind bereits im Krankenhaus verbracht und bedankte sich, dass es die Klinik nun verlassen konnte. Ein Schicksal, das den Pater zu Tränen rührte. Ein Ende der Wallfahrtstradition sieht der Pater deshalb noch nicht – im Gegenteil. „Der Anstrich im Innenraum müsste mal wieder neu gemacht werden – darauf müssen wir aber erst sparen.“