Mehr als 2.000 Betroffene

Studie offenbart Missbrauch in evangelischer Kirche

Nach der katholischen kämpft nun auch die evangelische Kirche mit dem Missbrauchsskandal. Eine neue Studie legt Tausende Fälle von sexualisierter Gewalt in Landeskirchen und Diakonie offen. Experten überrascht das nicht.

Die Studie spricht von mindestens 2.225 Menschen, die zwischen 1946 und 2020 im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie sexualisierte Gewalt erfahren haben sollen. © roxcon - stock.adobe.com

Wenn in den vergangenen Jahren über Missbrauchsfälle gesprochen wurde, war meist von der katholischen Kirche die Rede. Eine neue Studie zeichnet nun auch für die evangelische Kirche ein dramatisches Bild. Seit Jahrzehnten hat es auch dort Tausende Fälle gegeben, die häufig vertuscht wurden.

Die Studie spricht von mindestens 2.225 Menschen, die zwischen 1946 und 2020 im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie sexualisierte Gewalt erfahren haben sollen. Verantwortlich für ihr Leid sollen mindestens 1.259 Kirchenmitarbeiter sein, übrigens fast ausschließlich Männer.

Bei der Vorstellung der von der EKD beauftragten Untersuchung in Hannover betonten Wissenschaftler und Betroffene immer wieder, die Studie nicht allein nach den genannten Zahlen, sondern aufgrund ihrer zahlreichen qualitativen Erkenntnisse zu bewerten. Trotzdem richtete sich der Fokus der Öffentlichkeit zunächst auf das Zahlenmaterial, das in einem von fünf Teilprojekten der sogenannten Forum-Studie erhoben wird.

Weit höhere Zahlen sind wahrscheinlich

Weil nur eine der 20 deutschen Landeskirchen neben den Disziplinarakten auch alle Personalakten ausgewertet hat, gehen die Studienautoren von weit höheren Zahlen in kirchlichen Quellen aus. Mit Hilfe einer Hochrechnung kommen sie auf mindestens 9.355 Betroffene und 3.497 Beschuldigte, die in den Akten verzeichnet sein könnten, darunter 1.402 Geistliche.

Diese Zahl der beschuldigten Pfarrer und Vikare liegt in etwa auf dem Niveau, das für die katholische Kirche in der vor fünf Jahren veröffentlichten MHG-Studie angenommen wurde. Ihr zufolge gab es bei 1.670 Klerikern Hinweise auf Missbrauchstaten in den kirchlichen Akten.

Die Forscher weisen darauf hin, dass das Dunkelfeld deutlich größer sei. Zudem seien die hochgerechneten Zahlen mit großer Vorsicht zu genießen, so der Mannheimer Psychiater Harald Dreßing, der für den Zahlenteil der Forum-Studie verantwortlich ist. Er kritisierte die Zuarbeit der Landeskirchen. Im Vergleich zur katholischen Kirche habe man dies auf evangelischer Seite "schlechter hinbekommen, obwohl es im Vorfeld vereinbart war", so Dreßing, der auch Koordinator der MHG-Studie war.

Betroffene an Studie beteiligt

Insgesamt lassen sich die beiden Studien nur bedingt miteinander vergleichen. Die MHG-Studie ermittelte nur die Taten von Geistlichen, während die Forum-Studie auch weitere Kirchenmitarbeiter wie Erzieher und Religionslehrer mit einbezog und außerdem den Bereich der Diakonie beleuchtete. Das Feld der Caritas war auf katholischer Seite nicht Thema.

Auch wurden Betroffene bei der Forum-Studie stärker beteiligt. Sie wurden nicht nur befragt, sondern wirkten auch selbst mit - etwa am Erstellen von Fragebögen.

Der knapp 900 Seiten starke Forum-Bericht macht deutlich, dass sexualisierte Gewalt ein Thema aller Handlungsfelder und Einrichtungen in der evangelischen Kirche und Diakonie ist. Ähnlich wie im katholischen Bereich sieht er die besondere Rolle der Geistlichen als Risikofaktor für Missbrauch. Es zeigt sich, dass Pfarrer ihre besondere Machtposition immer wieder ausgenutzt haben.

Kaum Unterstützung für Missbrauchsbetroffene

Was den Umgang mit Betroffenen angeht, stellen die Forscher auch der evangelischen Kirche ein schlechtes Zeugnis aus. "Evangelische Kirche und Diakonie haben sich fast nie als soziale Systeme präsentiert, in denen Betroffene Unterstützung bei der Aufdeckung sexualisierter Gewalt erfuhren", so Studienleiter Martin Wazlawik.

Viele Betroffene machten laut der Studie die Erfahrung, dass die Institution sehr träge auf ihre Berichte und Forderungen reagierte. In fast der Hälfte der Landeskirchen existierten keine verbindlichen Regeln für die Erfassung von Fällen sexualisierter Gewalt. Viele Landeskirchen konnten eine Vernichtung von Akten nicht ausschließen.

Als Ursachen dafür nennt der Bericht unter anderem die föderale Struktur der evangelischen Kirche. Je nach Landeskirche werde mit Missbrauch unterschiedlich umgegangen. Verantwortung werde zwischen den verschiedenen Ebenen hin- und hergeschoben.

Für den katholischen Kinderschutzexperten Hans Zollner ist all das keine Überraschung. International sei seit langem bekannt, dass es Missbrauch in großer Zahl auch in protestantischen Kirchen gebe, sagte er der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Die klerikale Struktur der katholischen Kirche und der Zölibat seien keineswegs die einzigen Ursachen für diese Straftaten. "Entscheidend ist, wie in einem System Macht ausgeübt und missbraucht werden kann."

Pater Zollner: Kultur des Verschweigens in beiden Kirchen

Zollner riet den evangelischen Kirchen, den Betroffenen Raum zu geben, über ihre Anliegen zu sprechen. Zudem müssten sie auf ihre eigenen systemischen Zusammenhänge schauen, die Missbrauch begünstigt und Vertuschung befördert haben. Ein Element scheine das evangelische Pfarrhaus mit seinen besonderen Mechanismen zu sein. "Das funktioniert ganz anders als das Männerbündische in der klerikalen Hierarchie der katholischen Kirche. Und doch gab es offenbar in beiden Systemen eine Kultur des Verschweigens."

Betroffene fordern unterdessen bundesweit einheitliche Standards für den Umgang mit Missbrauch in der evangelischen Kirche, höhere Anerkennungszahlungen und eine Mitwirkung des Staates bei der Aufarbeitung. Die Parlamente müssten überfällige Aufarbeitungsstrukturen schaffen, sagte etwa der Sprecher der Betroffenen-Initiative "Eckiger Tisch", Matthias Katsch. Zudem sei das Amt der Missbrauchsbeauftragten bei der Bundesregierung gesetzlich zu verankern.

Nach Ansicht des Sprechers des Betroffenenbeirates bei der Deutschen Bischofskonferenz, Johannes Norpoth, hat die evangelische Kirche von der katholischen Kirche nichts gelernt. In Sachen Missbrauch verführen ihre Vertreter ebenfalls nach der Salamitaktik: "Ich gebe das zu, was mir bereits nachgewiesen wird", sagte er im Interview des Portals domradio.de.

Zugleich betonte Norpoth, dass beiden Kirchen bei der weiteren Aufarbeitung noch lange steinige Wege bevorstünden. Nach dem Motto "Guck mal, die haben dasselbe Problem wie wir, da müssen wir uns jetzt nicht mehr so viel kümmern" mit dem Finger auf die evangelische Kirche zu zeigen, sei der falsche Weg: "Die moralische Fallhöhe in der katholischen Kirche ist immer noch maximal." (Michael Althaus/kna)