Katholische Kirche

Fünf Jahre Missbrauchsstudie: "Die alte Zeit ist zu Ende"

Es ist nur die Spitze des Eisbergs: Vor fünf Jahren ermittelte eine wissenschaftliche Studie erstmals das Ausmaß von sexuellem Missbrauch in der Kirche in Deutschland. Seitdem ist nichts mehr so, wie es einmal war.

Die MHG-Studie löste eine Art Tsunami in der katholischen Kirche aus. © ariyawat - stock.adobe.com

Es war ein nicht enden wollender Strom erschütternder Nachrichten: Seit 2010 folgte eine Enthüllung über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland auf die andere. Vor fünf Jahren dann ein Meilenstein: Erstmals versuchte eine Studie, ein - wenn auch unvollständiges - Gesamtbild des Skandals zu zeichnen, der die Kirche in ihren Grundfesten erschüttert hat.

Am 25. September 2018 veröffentlichte die Deutsche Bischofskonferenz in Fulda die wissenschaftliche Untersuchung über "Sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige". Ein erschreckender Blick in die Vergangenheit der Kirche, wie der damalige Konferenzvorsitzende, Kardinal Reinhard Marx, formulierte. "Ich schäme mich für das Vertrauen, das zerstört wurde, für die Verbrechen, die Menschen durch Amtspersonen der Kirche angetan wurden."

Nur die Spitze des Eisbergs

Die MHG-Studie - benannt nach Mannheim, Heidelberg und Gießen, den Standorten der beteiligten Wissenschaftler - löste eine Art Tsunami aus. Mehr als 38.000 Personalakten von Klerikern wurden überprüft, beginnend ab 1946 bis 2014. Das Ergebnis: 4,4 Prozent von ihnen waren des sexuellen Missbrauchs beschuldigt worden. Den 1.670 Tätern stehen mindestens 3.677 Kinder und Jugendliche gegenüber, die von sexuellem Missbrauch betroffen waren - 62,8 Prozent von ihnen männlich.

Das sei aber nur die Spitze des Eisbergs, sagte der Studienleiter, der Psychiater Harald Dreßing. Das Dunkelfeld sei erheblich größer. Dreßing verwies auch auf die eingeschränkte Aussagekraft der Studie: So seien Akten vernichtet oder manipuliert worden. Viele Vorfälle seien gar nicht dokumentiert oder nicht bekannt geworden - "Nicht-Wissen-Wollen als System". Auch durften die Forschenden nicht selbst in die Kirchenarchive gehen, sondern waren darauf angewiesen, was ihnen Beauftragte der Bistümer mitteilten.

Seitdem ist weniges so, wie es vorher war. Die Austrittszahlen explodieren. Der Vertrauensverlust ist massiv. Waren noch alle 27 Bistümer an der MHG-Studie beteiligt, legte in der Folge ein Teil von ihnen eigene Studien vor. Mal lag der Schwerpunkt bei einer juristischen Bewertung, mal bei einer historischen Aufarbeitung, mal bei einer soziologischen Analyse, die auch nach dem Umgang von Bischöfen, Diözesanverwaltungen und Gemeinden mit dem Missbrauch fragte.

Härte und Abweisung gegenüber Betroffenen

Dabei ging es auch um konkrete Namen: Früheren Leitfiguren wie Kardinal Karl Lehmann und seinem Nachfolger als Vorsitzender der Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, bescheinigten die Gutachten, zuerst die Strukturen der Kirche und die Täter geschützt zu haben. Den Betroffenen dagegen hätten sie unglaubliche Härte und Abweisung entgegengebracht. Auch Papst Benedikt XVI. holte der Missbrauchsskandal noch einmal ein. Ein Gutachten bescheinigte dem früheren Münchner Erzbischof Joseph Ratzinger Fehlverhalten in vier Missbrauchsfällen.

Als einziger Bischof bisher trat der Osnabrücker Franz-Josef Bode tatsächlich zurück. Kardinal Marx bot dem Papst seinen Rücktritt an, doch Franziskus beließ ihn im Amt. Ähnlich war es bei Hamburgs Erzbischof Stefan Heße und dem Kölner Weihbischof Dominikus Schwaderlapp.

Im Mittelpunkt von teils harscher öffentlicher Kritik stand das Erzbistum Köln: Dass Kardinal Rainer Maria Woelki eine erste Untersuchung wegen "methodischer Mängel" stoppte und 2020 ein zweites Gutachten in Auftrag gab, sorgte für Misstrauen. Auch der Umgang mit verschiedenen einzelnen Missbrauchsfällen stürzte das Erzbistum in eine Vertrauenskrise. Papst Franziskus verordnete Woelki eine fünfmonatige "geistliche Auszeit" und verlangte vom Kardinal ein Rücktrittsgesuch - über das er allerdings immer noch nicht entschieden hat.

Streitpunkt: systemische Ursachen

Klar ist: Die MHG-Studie und die Bistumsgutachten sind nur ein Baustein - neben der Entschädigung der Betroffenen, der Bekämpfung der Ursachen und der Prävention. "Die Studien stellen ein bestimmtes Wissen zur Verfügung, aber dann müssen die Verantwortlichen weitergehen", so Historiker Thomas Großbölting, einer der Autoren der Untersuchung im Bistum Münster. Dreßing kritisierte das Vorgehen der Bischöfe im Frühjahr massiv: Immer neue Gutachten rührten nicht an den Kern des Problems: Es gelte, die systemischen Ursachen wie die klerikale Macht anzugehen.

Ob es solche systemischen Ursachen gibt, wird allerdings von konservativer Seite bestritten. Der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer etwa warnte vor einer Instrumentalisierung des Missbrauchsskandals, um Reformen durchzudrücken. Die Antwort der Wissenschaftler und der meisten Bischöfe ist allerdings klar: Dreßing betonte, es gebe in der Kirche "spezifische Risikokonstellationen, die Missbrauch begünstigen" - beispielsweise "klerikale Macht, veraltete Sexualmoral, Zölibat und Ausschluss von Frauen in den Männerbünden". Großbölting sieht das genau so und spricht von einem "katholischen Soziotop des Verschweigens und Vertuschens".

Ob der Kirche eine echte Aufarbeitung gelingen kann? "Man ist in eigener Sache immer befangen, und es gibt stets einen bestimmten Grad institutioneller Schuld, die die jeweilige Institution nicht selbst bearbeiten kann", sagt etwa die Präsidentin des Bundesgerichtshofs, Bettina Limperg.

Anfrage an Politik

Der Ruf nach unabhängiger Aufarbeitung ist deshalb immer lauter geworden. Dreßing fordert eine bundesweite kirchenunabhängige Wahrheitskommission. Auch der Vorsitzende der Bischofskonferenz, der Limburger Bischof Georg Bätzing, zeigt sich grundsätzlich offen dafür, sexuellen Missbrauch in der Gesellschaft durch eine vom Bundestag eingesetzte Wahrheitskommission aufarbeiten zu lassen.

Fraglich ist, ob der Staat das will. "Aus wissenschaftlicher Perspektive ist es irritierend, dass die Politik nicht aktiver wird", kritisiert Dreßing. Der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller analysiert, dass auch die Staatsanwaltschaften bis weit über die Jahrtausendwende hinaus sehr sanft mit den Kirchen umgegangen seien. Erst im Februar 2023 kam es zur ersten Durchsuchung einer Bistumszentrale. Mittlerweile haben Gerichte zwei kirchlichen Missbrauchsopfern hohe Entschädigungszahlungen zugesprochen.

Synodaler Weg erwächst aus Studie

"Die alte Zeit ist zu Ende", schrieb Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck 2019 an die Katholiken im Bistum Essen. Die Bischöfe haben die Interpretation, dass Missbrauch in der Kirche auch systemische Ursachen hat, mit großer Mehrheit akzeptiert - auch gegen massiven Widerstand aus konservativen Kirchenkreisen und aus Rom.

2019, in Folge des MHG-Gutachtens, riefen die Bischöfe zusammen mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) den Reformprozess Synodaler Weg ins Leben. Mit den Themenfeldern "katholische Sexualmoral", "Klerikalismus", "Zölibat" und "Stellung der Frau" hat er genau die Themen aufgegriffen, die in der MHG-Studie als Risikokonstellationen benannt wurden. Ob sich die Kirche wirklich ändert, bleibt aber - Gutachten hin, Reformprojekte her - weiter offen. (Christoph Ahrens/kna)