Priester und Pionier

Pfarrer Probst gründete erste bayerische Behinderteneinrichtung

Menschen mit Handicaps waren für den Gründer der Stiftung Ecksberg keine hoffnungslosen Fälle, darum förderte er sie und gab ihnen Würde.

Großes Herz für Menschen mit Handicaps und seiner Zeit weit voraus: Joseph Probst (1816–1884) © Archiv Stiftung Ecksberg

Mühldorf – Die Geschäfte könnten leiden, das Ansehen von Altmühldorf sinken, und warum sollten ge-rade hier die Einwohner jeden Tag mit „solchen“ Leuten zu tun haben müssen? Die Gründung der ersten bayerischen Einrichtung für Men-schen mit Handicaps war beileibe kein Selbstläufer. Selbst die Pfarrkir-chenstiftung stellte sich quer, als in das alte verlassene Benefiziaten-haus neben der Wallfahrtskirche auf dem Ecksberg „verstand- und vernunftarme Kinder“ einziehen sollten.
So nannte Joseph Probst die Mädchen und Buben, die er oft genug aus menschenunwürdigen Umständen herausgeholt hatte und fördern wollte. Der aus Reichersbeuern bei Bad Tölz stammende Pfarrer zählt zu den großen Pionieren der Behindertenarbeit. Das Haus auf dem Ecksberg bezeichnete er nicht wie damals üb-lich als „Bewahranstalt“ oder „Heilanstalt“, sondern er nannte es „Weltläufigmachungsinstitut“.

Guter bayerischer Dickkopf

Auch wenn der Name etwas sperrig klingt, „es ist ein wunderbares Wort“, erklärt Johann Hertkorn: „Menschen werden befähigt, sich in der Welt zurechtzufinden, und nicht irgendwo weggesteckt.“ Der 74-Jährige war von 1992 bis 2005 Direktor der Stiftung Ecksberg und hat auch die Geschichte des Hauses und seines Gründers erforscht. Joseph Probst charakterisiert er als „guten bayerischen Dickkopf “, und mit dem hat er seine Ideen beharrlich durchgesetzt. Die waren Mitte des 19. Jahrhunderts unerhört: „Jedes Kind sollte eine in-dividuelle Förderung erhalten, Ge-borgenheit und Zuneigung die ersten Prinzipien in der Arbeit mit behin-derten Menschen sein“, erläutert Hertkorn. Das hatte sehr praktische Folgen. In Ecksberg waren die Kinder und Jugendlichen nicht in großen Schlafsälen untergebracht, sondern in familienähnlichen Gruppen. Bestrafungen lehnte Probst grundsätzlich ab, und wer sie verhängte, musste sie begründen können und durfte nicht einfach seine Autorität geltend machen.

Nie zweifelte der Priester daran, dass die „Schwachsinnigen“ oder „Cretinen“, wie sie damals im Fachjargon hießen, lern- und bildungsfähig waren. Er beschäftigte sie mit Bausteinen, um den Farben- und Formensinn zu schulen, ließ sie mit Papierstreifen und Stoffflecken arbeiten, um die Fingerfertigkeit der oft jahrelang vernachlässigten Kinder anzuregen, sie halfen in Küche und Garten mit, und Probst erteilte ihnen sogar Schulunterricht. Alles mit dem Ziel, diese ausge-grenzten jungen Menschen „weltläufig“ zu machen, damit sie so weit wie möglich ihr Leben selbstständig ge-stalten konnten, inner- und nicht au-ßerhalb der übrigen Gesellschaft.

Individuelle Förderung

Das liegt nicht weit entfernt vom heutigen Begriff der Inklusion, und Probsts Konzepte sind hochaktuell: „Sein Ziel war, die Förderung auf das Individuum zuzuschneidern und ihm eine Wahlmöglichkeit zu lassen“, er-klärt Hertkorn. Für dieses Programm kämpft Joseph Probst sein Leben lang. 1873 stellt er seine pädagogischen Konzep-te sogar auf der Weltausstellung in Wien vor. Da hat er schon längst die Widerstände gegen Ecksberg überwunden und wichtige Persön-lichkeiten für sein Werk gewonnen. Der Altmühldorfer Pfarrer bezahlt ihn großzügig für Aushilfsdienste in der Pfarrei, einheimische Bürger sichern ihm eine jährliche Unterstützungsleistung von 400 Gulden zu, die Gattin des Bürgermeisters hilft persönlich in der Einrichtung mit, Spender und Stifter sichern deren Unterhalt. Noch bevor das Ordinariat seine neue Tätigkeit genehmigt, zieht Probst im Frühjahr 1852 in Ecksberg ein, um Fakten zu schaffen. Der Sohn eines armen Tagelöhners hatte schon als Kind gelernt, sich zu behaupten. Bereits mit neun Jahren muss er sich seinen Lebensunterhalt als Müllergehilfe selbst verdienen, „weil das Essen daheim nicht für ihn gereicht hat“, erzählt Hertkorn. Als Probst mit 15 eine Primiz miterlebt, ist für ihn klar, dass er Priester werden will, und er schafft es. Nicht um sozial aufzusteigen, sondern um sich für andere einsetzen zu können.

Ein Kommunikationstalent

Obwohl sein Werk schnell Anerkennung findet und Probst sogar den königlich bayerischen Verdienstorden erhält, gerät er nach seinem Tod 1884 etwas in Vergessenheit. „Seine Nachfolger haben es wohl versäumt, Ecksberg weiter bekannt zu machen“, erklärt Hertkorn. Es fehlte an Öffentlichkeitsar-beit, die Pfarrer Probst als Kommunikationstalent selbst meisterhaft beherrschte. Der Tagelöhnerbub konnte Menschen gewinnen und mobilisieren und tat alles, wenn es um seine Schützlinge ging.

1938, als die Nationalsozialisten die Einrichtung gegen den scharfen Protest der Erzdiözese übernahmen, konnte er nicht mehr für sie da sein. 248 Bewohner wurden mit Gas ermordet, fast 200 ließen die NS-Ver-antwortlichen verhungern. Pfarrer Probst hätte dagegen mit allen Mitteln gekämpft. Davon ist Hertkorn überzeugt: „Er liebte Menschen mit Behinderung und hätte sein eigenes Leben dafür hingegeben, dass so etwas nicht passiert.“

Der Autor
Alois Bierl
Chefreporter Sankt Michaelsbund
a.bierl@michaelsbund.de