Nächstenliebe lernen bei den Pfadfindern

Auf das Vorleben kommt es an

Norbert Steidl ist Pfadfinder mit Leib und Seele. „Jeden Tag eine gute Tat“ ist für ihn zur Lebenseinstellung geworden, auf die er nicht mehr verzichten möchte.

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Ganz normaler Alltag in einer Großstadt wie München: Eine Frau mit Kinderwagen braucht Unterstützung auf der Rolltreppe, oder ein älterer Mensch, bepackt mit Einkaufstaschen, kann die Ladentür nicht öffnen. Die Reaktionen darauf fallen durchaus unterschiedlich aus. Es gibt Leute, die schauen im Vorbeigehen einfach weg, ignorieren die Notlage der Betroffenen und gehen weiter. Für Yann Hidiat wäre so ein Verhalten undenkbar. Er ist Sankt-Georgs-Pfadfinder in Perlach und hat ein Versprechen abgelegt, dass er seinen Mitmenschen hilft. In der Wölflings- und Jungpfadfinderstufe gebe es einen vorgefertigten Versprechenstext, den man aufsage, erklärt Yann. In dem komme im letzten Satz das berühmte Pfadfindermotto „Jeden Tag eine gute Tat“ vor.

Vorleben statt erzählen

Allerdings dürfe man das Versprechen, jeden Tag etwas Gutes zu tun, nicht wörtlich nehmen, erklärt Norbert Steidl, Kurat beim Stamm „Galileo Galilei“ in Riem. Im Idealfall werde daraus eine Lebenseinstellung. Gemeinde, das sei nicht nur die Pfarrei, zu der ein Pfadfinderstamm gehören, sondern alles, „das bei mir im täglichen Leben drumherum passiert“. Aufgabe der Pfadfinder sei es, mit wachen Augen durch die Welt zu gehen und zu schauen, wo man gezielt Menschen unterstützen könne, so Steidl. Einfach lernen könne man diese Haltung nicht, es brauche Vorbilder, meint Steidl, der sich schon über 40 Jahre bei den Sankt-Georgs-Pfadfindern engagiert. Es seien die älteren Pfadfinder, die den jungen zeigen, wie Nächstenliebe funktioniert. „Es hilft nichts, wenn ich viel darüber schreibe oder erzähle, das Vorleben ist die viel bessere Variante“, erklärt Steidl. Die Kleinen sähen bei den Nächstgrößeren, was sie tun, und wie sie es machen. So stelle sich mit der Zeit ein Lerneffekt ein.

„Ich würde es vermissen, wenn ich es nicht täte“

Yann ist seit fünf Jahren Pfadfinder. Dass er mit offenen Augen durch die Welt geht und auf andere Menschen achtet, das hat er nicht erst bei den Pfadfindern gelernt. Die Pfadfinderei hat aber dazu beigetragen, dass sich bei ihm die Einstellung, anderen Menschen zu helfen, verfestigt hat. „Ich bin älter und damit auch ein Stück reifer geworden. Für mich wurde das einfach zur Selbstverständlichkeit, anderen Leuten zu helfen“, sagt Yann. Wer anderen beisteht, bekomme meistens auch etwas zurück. Für Norbert Steidl sind es gerade die zwischenmenschlichen Erfahrungen, die ihn zu guten Taten anspornen. Wenn man zum Beispiel einem Menschen die Tür aufhalte, entstehe oft ein kurzer Blickkontakt, bei dem man ein Lächeln einfangen könne, erzählt Steidl. „Und dieses Lächeln finde ich immer schön, weil die Menschen in der heutigen Zeit meistens nur in der Gegend umeinander hasten, alles ist schnell und unruhig“. Und im besten Fall gehe die Begegnung über den Blickkontakt hinaus. Schon oft hat Norbert Steidl die Erfahrung gemacht, dass wer anderen helfe, mit ihnen vielleicht auch ins Gespräch kommt. „Das ist etwas, was ich als gut empfinde, denn der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen und kein Einzelkämpfer. Ich fühle mich dabei wohl und würde es vermissen, wenn ich es nicht täte“.

Auch wenn es nicht täglich mit einer guten Tat klappt: wer das Pfadfinder-Motto erst einmal verinnerlicht hat, geht einfach zufriedener durchs Leben. Norbert Steidl und Yann Hidiat scheinen das zu bestätigen. Und vielleicht ist es auch ein Grund dafür, dass die Sankt-Georgs-Pfadfinder trotz Kirchenkrise zu den Verbänden gehören, die weiter wachsen. Rund 4.500 von ihnen gibt es im Erzbistum München und Freising, bayernweit über 15.000.

Der Autor
Paul Hasel
Radio-Redaktion
p.hasel@michaelsbund.de