Augenzeuge des Nahost-Konflikts

Abt Nikodemus: Grautöne statt nur schwarz und weiß

Nach dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel droht ein Flächenbrand im Nahen Osten. In den Nachrichten erschrecken uns die Bilder jeden Tag aufs Neue. In Jerusalem lebt Abt Nikodemus Schnabel, der die Dormitio-Abtei auf dem Zionsberg leitet.

Nikodemus Schnabel wurde im Mai 2023 zum Abt der Dormitio-Abtei in Jerusalem geweiht © KNA

Die Dormitio-Abtei liegt nicht in einem Kampfgebiet. Um genau zu sein, liegt sie sogar im Niemandsland zwischen Ost- und Westjerusalem, zwischen Arabisch und Hebräisch sprechendem Teil der Stadt. Und genau deshalb fühlt sich der Mönch dort sicher: „Auch der radikalste Islamist würde keine Rakete auf die al-Aqsa-Moschee oder den Felsendom lenken. Und die sind halt wirklich in unmittelbarer Nachbarschaft zu uns.“

Die Abtei ist Anlaufstelle für deutsche Pilger oder Deutsche, die in Israel leben. Aber natürlich auch für alle anderen Menschen. Bis zu 5000 Pilger kommen normalerweise Tag für Tag dorthin, derzeit sind es vielleicht zehn. Diese Menschen suchen die Ruhe und Geborgenheit der Abtei. „Ganz wichtig ist für Einheimische, Ausländer und Migranten, für Juden und für Muslime, dass sie wissen, sie können immer hierherkommen, bekommen immer eine Tasse Kaffee und einen Mönch, der ihnen zuhört.“

Tote Christen auf beiden Seiten

Zur Abtei gehört auch ein zweites Kloster am See Genezareth. Dort haben die Mönche einer Gruppe jüdischer Behinderter Zuflucht geboten, aus einer Region, die stark unter Beschuss stand und in der die Rollstuhlfahrer es nicht mehr geschafft haben, immer wieder in die Bunker zu gelangen.

Abt Nikodemus wird oft von den Medien angefragt, die Lage in Israel zu beurteilen. Die Frage nach dem Standpunkt der Christen kann er ihnen aber nicht beantworten. Denn obwohl der Anteil der Christen in Israel und Palästina nur ein bis zwei Prozent beträgt, sind sie in allen Bevölkerungsgruppen und in allen Gebieten vertreten. „Am 7. Oktober wurden auch drei katholische Philippinas ermordet, die ältere Menschen in den Kibbuzim gepflegt haben. Und es wurden auch einige Christen entführt. Und wir haben 18 getötete Christen auf der Seite von Gaza.“

Konflikt der Extremisten, nicht der Religionen

Der Abt sieht den Konflikt nicht zwischen den gläubigen Angehörigen der Religionen, sondern zwischen den Extremisten auf beiden Seiten: „Was die Hamas macht, hat nichts mit dem Islam zu tun. Das ist eine totale Pervertierung. Babys zu enthaupten und zu verbrennen, Frauen zu vergewaltigen, dafür gibt es keinen religiösen Freifahrtschein. Das ist einfach pervers. Das ist Sünde.“

Auch die radikalen Juden, die Christen bespucken oder Friedhöfe schänden, können in seinen Augen keine wirklich frommen Gottsucher sein. „Die letzte Scheibe wurde bei uns an einem Freitagabend eingeschlagen. Am Schabbat. Das ist eine Entweihung des Schabbats.“

Doch weil die Lage so kompliziert ist, hätten es die Hassprediger leicht und auch die israelischen Politiker der rechtsextremen Partei, die an der Regierung beteiligt war. „Die sagen: Ich erkläre dir die Welt in drei Minuten. Das sind die Guten, das sind die Bösen. Das sind deine Kameraden und die anderen hast du zu vernichten.“ So folgten einige den Demagogen, die nur noch schwarz und weiß malten. Die Grautöne blieben auf der Strecke. Für die Religionen sieht Abt Nikodemus vor allem eine Aufgabe: „Geschmack an Komplexität zu machen“.

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Die Autorin
Brigitte Strauß-Richters
Radio-Redaktion
b.strauss-richters@michaelsbund.de