Meditative Tour

Zurück zu neuer Zuversicht

Kann man durch das Wandern mehr Achtsamkeit gewinnen? Unsere Autorin hat es ausprobiert und sich mit einer kleinen Gruppe auf einen Meditationsweg im Alpenvorland begeben.

Die Teilnehmer blicken in einer Pause auf den wolkenverhangenen Staffelsee (Bild: Kiderle) © Kiderle

Murnau – Ich bin schnell am Ende. In Gedanken zähle ich meine Rituale, die mich durch den Tag, die Woche begleiten. Da ist nicht viel. Der Kaffee in der Früh, ohne den nichts geht. Das war‘s dann auch schon. „Rituale strukturieren unseren Tag“, sagt Irmgard Eder, die die Wanderung „Auf dem Weg zu neuer Zuversicht – Meditationswanderung im bayerischen Alpenvorland“ des Bayerischen Pilgerbüros leitet. Wir stehen in Seehausen bei Murnau, blicken auf den Staffelsee, über dem an diesem Morgen noch graue Wolken hängen. Eder gibt der Gruppe diesen Impuls mit auf die nächsten Kilometer: „Welche Rituale habe ich in meinem Tagesablauf, was strukturiert mein Leben. Gibt es sie oder welche habe ich verloren?“

Schweigend gehen wir mehr als eine halbe Stunde, um darüber zu sinnieren, was das eigene Leben strukturiert. Hinter mir ist das Röhren eines Motorbootes zu hören, neben mir zwitschern Vögel um die Wette. Um mich herum kämpft sich der farbenfrohe Frühling durch den Erdboden. Ich ziehe vorbei an urigen, wunderschönen Holzhäuschen, als mir bewusst wird, dass mir im Laufe der Jahre sämtliche Rituale abhandengekommen sind. Als junges Mädchen war mein Leben gegliedert, allein schon durch die Schule, aber auch durch Klavierunterricht, Ballett, Turnen, Singen nachmittags. Diese Rituale fehlen, einige sind geblieben wie Gottesdienstbesuche, einige sind dazugekommen wie sonntags mit dem Vater das Grab der Mutter zu besuchen. Oder auch Warten. Warten auf Menschen, Warten auf Entscheidungen. Ich will etwas ändern, Rituale müssen her, beschließe ich, während der Wind meine beklemmenden Gefühle wegpustet.

Rituale geben Orientierung

Den anderen in der Gruppe scheint es ähnlich zu ergehen. Auch aus Jobgründen habe er viele Rituale verloren, berichtet Andreas aus Frankfurt bei der anschließenden Pause am Seeufer. „Unsere Ahnen haben es früher, trotz der widrigen Lebensumstände auch geschafft, ihre Rituale zu pflegen“, meint Irmgard Eder, „es ist wichtig, den Alltag auch mal auszusperren, Rituale geben Orientierung.“ Die 56-Jährige, die sonst als Gemeindereferentin in der pastoralen Seelsorge im Ordinariat der Erzdiözese München und Freising arbeitet, erinnert dabei auch an die Bibel: „Am siebten Tag sollst du ruhen.“

Diese Mischung aus entspanntem Wandern in malerischem Gelände, spirituellen Impulsen, Führung und Freiraum für eigene Gedanken macht diese meditative Tour so wertvoll. Für alle. Das wird schnell deutlich. Die vier Teilnehmer sind aus unterschiedlichen Gründen ins Murnauer Moos gereist, aber sie alle suchen neue Zuversicht in ihrem Leben. „Ich war ziemlich am Ende“, gibt Elisabeth aus Cuxhaven zu, „mein Mann ist im Oktober an Krebs gestorben.“ Zunächst habe sie funktioniert, doch an Weihnachten sei sie in ein Loch gefallen, erzählt die 62-Jährige. Sie musste etwas Gutes für sich tun.

Neuer Blick auf Leben und Tod

Im Internet entdeckte sie dieses Angebot des Bayerischen Pilgerbüros. „Neue Zuversicht gewinnen, das ist genau das, was ich brauche“, meint Elisabeth in ihrem charmanten norddeutschen Tonfall. In Bayern mit seiner „herrlichen Natur“ sei sie schon immer gerne gewandert und die Teilnehmer seien wunderbar, die Gruppe in den fünf Tagen zusammengewachsen. Ob sie nun tatsächlich neue Zuversicht nach ihrem Schicksalsschlag gewonnen hat? „Im Moment kann ich das deutlich mit ‚ja‘ beantworten“, lächelt die sportliche Frau, „Irmgard zeigt mir neue Wege und Gedanken auf.“ Leben und Tod von einer anderen Warte aus zu sehen, dieses Bewusstsein in sich hineinzuhorchen, in kleinen Schritten zu denken und zu gehen.

Irmgard Eder ist immer ansprechbar. „Ich höre zu, das ist das allerwichtigste, dass die Teilnehmer von sich aus erzählen“, erklärt Eder, „ich spiegle ohne Wertung wider, was bei mir ankommt, was ich heraushöre. Es ist eine geistliche Begleitung.“ Sie rege dazu an, die eigenen Ressourcen zu entdecken. „Was sind meine Stärken? Was habe ich bereits geschafft? Wo sind meine Wurzeln? Welche Menschen haben mich geprägt? Oder verletzt? Welche Beziehungen sind einseitig?“ Sich diesen Fragen zu stellen, bedeute letztlich mehr Achtsamkeit für sich selber zu erlernen.

Keinen Raum für eigene Bedürfnisse gehabt

Das versucht auch Brigitte aus dem Nürnberger Land. Die 63-Jährige hat einen langen Leidensweg hinter sich, 20 Jahre lang ihren Mann zu Hause gepflegt, der nach einem Schlaganfall immer unselbständiger wurde. Sie selbst und ihre Bedürfnisse hatten keinen Raum, sie konnte nicht ihr eigenes Leben führen. Seit einem Jahr ist ihr Mann im Heim, sie hat es nicht mehr geschafft. „Ich suche neue Wege, um wieder Kraft zu schöpfen“, sagt Brigitte, „durch die Impulse bekomme ich neue Ideen. Ich spüre, dass ich mehr Rituale einbauen muss, um nicht wieder in mein altes Fahrwasser zu kommen.“ Energie dafür bekommen Brigitte und die anderen durch Kurzbesuche in Kapellen wie etwa in der Maria-Hilf-Kirche im Zentrum Murnaus, in der gemeinsam gesungen wird, sowie bei morgendlichen Impulsen, abendlichen Meditationen und Körperübungen, die positive Energien freisetzen sollen.

Andreas ist das manchmal fast zu viel. Der 50-Jährige hat diese meditative Wanderung gebucht, um etwas für seinen Rücken zu tun – als Ausgleich für seine körperliche Arbeit als Chemikant. „Das Meditative hat mich angesprochen, dass keine sportlichen Höchstleistungen gefordert sind und man schlendern kann“, berichtet der Frankfurter. Die Wanderung ist auch für Ungeübte locker zu schaffen, immer wieder werden kurze Pausen eingelegt, Eder erzählt Wissenswertes über den Staffelsee, Murnau und den bekannten Schriftsteller Ödön von Horvath – oder fordert zum Schweigen und bewussten Genießen auf. „Es hilft mir tatsächlich runterzukommen, Stress abzubauen“, sagt Andreas.

Erwartungen übertroffen

Darum geht es der zweiten Elisabeth im Bunde nicht. Die 65-Jährige aus der Rhön hat schon viele Fußwallfahrten absolviert. Seit einem Jahr ist sie im Ruhestand, ehrenamtlich sehr engagiert, aber nun möchte sie ausloten, was für sie wirklich sinnvoll ist. „Die Wanderung hat meine Erwartungen übertroffen“, strahlt sie, „dieses Rundum-Paket mit den Gedankenanstößen am Morgen, den Gesprächen am Abend, wie man den Tag erlebt hat, also dass man ganzheitlich betreut wird, das finde ich klasse.“

Wir haben unser Ziel Uffing erreicht, genießen die hervorkommende Sonne im Biergarten. Zurück geht es auf dem Schiff. Die Teilnehmer sind entspannt – und ihrem Ziel neue Zuversicht zu erlangen, spürbar näher gekommen. Auch ich nehme einiges mit. Erst einmal Rituale einführen. Und wenn es nur die regelmäßige Mittagspause ist. (Susanne Hornberger)