30 Jahre nach Tschernobyl

Wolinzy – das verschwundene Dorf

Einen Monat im Jahr ein ganz normales Leben führen, ohne verstrahlte Umgebung, verstrahltes Essen und Armut – das ermöglicht der Verein „Hilfe für Kinder in der Gegend von Tschernobyl“ aus Anzing. Aber der Verein will auch die Zukunft der Kinder sichern.

(Bild: Yuliakrawetz - fotolia.com) © Yuliakrawetz - fotolia.com

Anzing – Es ist für sie eine Lebensaufgabe geworden. Seit einem Viertel Jahrhundert hilft Ingeborg Nünke mit dem Verein „Hilfe für Kinder in der Gegend von Tschernobyl“ - Mädchen und Buben aus der verstrahlten Region. Kein Kind könne etwas dafür, wo es geboren werde, sagt die Anzingerin, jeder hätte das gleiche Recht auf das Leben.

Die Situation der Kinder sei eine sehr schwierige und traurige, so Ingeborg Nünke: „Die Eltern der Kinder in Wolinzy haben keine Arbeit mehr. Das einzige was dem Ort geblieben ist, ist eine kleine Schule. Die Menschen bauen vor ihren Holzhäuschen Kartoffeln, Kraut und Rote Beete an, davon leben sie – sie leben von dem Gemüse das vor ihrer Tür im hoch verseuchten Boden wächst. Die Eltern der Kinder sind hoffnungslos und haben aufgegeben. Ich kann das gut verstehen. Ich bin zehnmal in dem Dorf gewesen, ich habe gesehen, wie den Menschen die Kraft fehlt und deshalb ist es für die Kinder wichtig, Perspektiven für ihr eigenes Leben zu finden.“

Das gelöschte Dorf

Das Dorf Wolinzy ist ein vergessenes Dorf, mittlerweile sogar von der Landkarte gelöscht worden, wer es googelt findet es nicht. Von der nächsten Kreisstadt muss man, so erzählt Nünke, mit kleinen Booten über den Fluss Sosch, dann gehe es 20 Kilometer durch den Wald an Dörfern vorbei, die mittlerweile schon ganz verlassen seien. Vor Tschernobyl war die Gegend aufstrebend, es war eine große Raketenbasis geplant, es gab Schulen und Arbeit. Die Menschen in Wolinzy bekommen „Strahlengeld“, um sich unverseuchte Lebensmittel zu kaufen. „Utopisch“, sagt die Helferin, „Die gibt es nirgends und die Menschen können ohnehin nicht aus ihrem Dorf raus, sie sind nicht motorisiert.“ Lange Zeit seien Ärzte und Wissenschaftler aus Minsk in den Ort gekommen, um die Menschen zu untersuchen, erzählt Nünke. Es treten gehäuft Schilddrüsenerkankungen auf, die Kinder haben ein geschwächtes Immunsystem. Nünke ist der Meinung, die Menschen dort seien nur für die Wissenschaft benutzt worden, denn die Möglichkeit, ihre kranken Kinder ins 350 km entfernte Minsk ins Krankranhaus zu bringen, gäbe es für sie einfach nicht – aus finanziellen Gründen und auch, weil sie die Notwendigkeit teilweise gar nicht begreifen.

Ausbildungshilfe für ein Leben mit Perspektive

Der Verein „Hilfe für Kinder in der Gegend von Tschernobyl" versucht, den Jugendlichen eine Perspektive zu geben. Er unterstützt sie bei der Berufsausbildung. Aktuell werden 15 Jugendliche mit je 50 Euro Ausbildungshilfe im Monat gefördert. Die Ausbildungsstätte muss mindestens 100 Kilometer entfernt liegen und die Jugendlichen müssen dazu eine Bestätigung der Berufsschule und zweimal im Jahr eine Kopie der Zeugnisse vorlegen. Seit dem Jahr 2000 hätten, so freut sich Nünke, bereits 54 Jugendliche eine Berufsausbildung abgeschlossen. Nur so wird den jungen Menschen die Möglichkeit eröffnet, ein neues Leben an einem „gesünderen“ Ort zu leben.

Einen Monat lang Erholung

Die jüngeren Kinder werden vom Verein einmal im Jahr in Familien in Anzing und Umgebung eingeladen – seit 25 Jahren. Einen Monat im Jahr, meist im Juli, dürfen sie ein ganz normales Leben führen, ohne verstrahlte Umgebung, verstrahltes Essen und Armut, sehen, dass es auch eine Perspektive gibt. Oft waren es bis zu 100 Kinder im Jahr, die in Deutschland Familienleben kennenlernen konnten, vielfach entstanden Kontakte zwischen den Familien und den Kindern. In diesem Jahr wird der Verein nur 40 Kinder einladen können, was Ingeborg Nünke traurig stimmt. Die Sicherheitsauflagen werden immer strikter. Diesmal will die deutsche Botschaft in Minsk alle Kinder ab 12 Jahren, die nach Deutschland reisen wollen, biometrisch erfassen. Deshalb musste bereits vor fast einem Monat klar sein, welche deutschen Familien Kinder aufnehmen wollen. Und das war schwierig, erklärt Nünke, denn es gäbe einfach viele Menschen, die aus beruflichen oder privaten Gründen erst relativ spontan entscheiden könnten, ob ihnen das möglich sei. Das sei auch in den vergangenen Jahren so gewesen, diesmal aber einfach nicht möglich.

Der Verein "Kinder in der Gegend von Tschernobyl" freut sich über Unterstützung, finanzielle Hilfe und die Übernahme von Patenschaften für die Kinder und Jugendlichen im strahlenversuchten Wolinzy. (sts)