Die Blätter schwimmen auf der stillen Wasseroberfläche. Wenn man sie länger ansieht, meint man, Muster zu erkennen. Ein Fisch vielleicht wie das frühe Symbol des Christentums? Darunter spiegeln sich eine weiße Wolke und ein tiefblauer Himmel. Je länger man das Foto betrachtet, desto dreidimensionaler ist die Wirkung. Und unwillkürlich meint man, selbst am Ufer des Sees zu stehen. Einfach schauen, beobachten, meditieren, abschalten. Das Foto erstreckt sich über eine Doppelseite in Erzabt Wolfgang Öxlers OSB Buch „Haltestellen für die Seele“ und markiert den Beginn des Kapitels „Annehmen & Verwandeln“. Darin geht es um Mut und Beharrlichkeit, um Freigeben und Gelassenheit sowie darum, eine großartige Verwandlung zuzulassen.
Spirituell mobil bleiben
Der Erzabt von St. Ottilien verdeutlicht das am Beispiel zweier Raupen, die sich darüber unterhalten, ob sie später wirklich einmal fliegen werden. Könnte es wohl mehr im Leben geben, als nur mühsam an Pflanzen herumzukriechen und Blätter zu futtern? Sie können es sich nicht vorstellen. Ihre spätere Natur als Schmetterlinge bleibt ihnen verborgen. Damit sind sie uns Menschen nicht unähnlich. „Solange wir Menschen uns in der Raupenwelt bewegen, mag manchen die Rede von der Auferstehung unsinnig erscheinen. Solange gilt: kriechen, fressen, kriechen, fressen. Oder anders gesagt: seine Aufgaben erledigen, arbeiten, sich durchwursteln, ein bisschen Spaß haben, älter werden, sterben. Und das war’s“, schreibt der Verfasser. Also, heraus aus der Raupenwelt.
Öxler ist seit 2013 Erzabt der Benediktinerabtei St. Ottilien. Ursprünglich war er Erzieher, dann Religionspädagoge, Theologe, Mönch, Exerzitienleiter, auch Musiker und natürlich Autor. Schon diese Kurzbiographie zeigt, dass da ein vielseitiger Mensch mit gedanklicher Nähe zu jugendlichen, fragenden Menschen unterwegs geblieben ist. Und auf diese Reise lädt er alle ein, die auch spirituell mobil bleiben wollen.
Der richtige Augenblick
Einzelne Wegabschnitte kann man dabei ebenso gehen wie den ganzen Weg. Ob man das Buch abschnittsweise liest oder auf einmal: Die Fotos der Augsburger Fotografenmeisterin Andrea Göppel tragen gleichberechtigt dazu bei, diese spirituelle Sehnsucht nach mehr als dem Raupenstadium zu verankern. Immer wieder faszinieren Aufnahmen, die schön sind und zugleich ganz besonders. Zum Beispiel ein grober Kirchenboden mit beigen und hellbraunen Bodenplatten, über den bunte Lichter streifen, die offenbar durch die Färbung eines Kirchenfensters entstanden sind. Ein anderes Bild zeigt Kondensstreifen in Kreuzform, die zwei Flugzeuge am Himmel auf ihrer Route hinterlassen haben, flankiert von der Sonne und dem Glockenturm einer Kirche. Da fällt es leicht, mit etwas Phantasie selbst abzuheben.
„Um ein gutes Foto aufzunehmen, braucht es den günstigen Augenblick und die richtige Einstellung“, schreibt Erzabt Wolfgang im Abschnitt „Der richtige Augenblick“. Dieser ist für das ganze Leben essenziell. Der Erzabt illustriert dies an alltäglichen Beispielen, die einem bekannt vorkommen mögen. Etwa das vom Mann, dessen Ehefrau ihm sagt, dass die Kinder sich freuen, wenn er ihnen eine Gute-Nacht-Geschichte vorliest. Er müsse nur noch schnell eine E-Mail beantworten, erwidert der Vater. Und irgendwann, natürlich viel zu spät, hat er sich von der Arbeit freigemacht. Doch die Kinder schlafen längst. „Keine sehr dramatische Geschichte, aber sie hinterlässt das ungute Gefühl, dass der Vater in einem wichtigen Augenblick die Prioritäten falsch gesetzt hat“, schreibt Erzabt Wolfgang. „Der günstige Augenblick wurde versäumt. Kennst du das auch?“
Nebenprodukt eines sinnvollen Lebens
Ja, so etwas kennen alle. Deshalb bleibt es eine lebenslange Aufgabe, immer wieder wachsam zu werden für den rechten Augenblick. Dabei ist es nach seiner Erfahrung als Benediktiner hilfreich, sich jeden Tag regelmäßige Auszeiten vom Alltagstrubel zu nehmen. Jeder Mensch trage die Sehnsucht nach Glück in sich, weiß Erzabt Wolfgang. Und er ermutigt, dieser Sehnsucht nachzugehen. Für ihn als Mönch ist klar, dass Gott unverzichtbar ist, um glücklich zu sein. „Gott will unserem Leben diese Ausrichtung auf ihn, auf seine Liebe schenken. Daraus kann Glück erwachsen, das nicht von dieser Welt ist“, betont der Erzabt. Eigentlich ist Glück aber in seinen Augen das „Nebenprodukt eines sinnvollen Lebens. Einfach gesagt: Das Glück stellt sich indirekt ein wie die Wärme durch die Arbeit“, schreibt er. Dazu sei es am besten, nicht immer zuerst das eigene Glück vor Augen zu haben, sondern vor allem andere Menschen glücklich machen zu wollen. (Gabriele Riffert, freie Mitarbeiterin der Münchner Kirchenzeitung)