Juden in Deutschland

Leben in einer offenen Gesellschaft

Die Zeiten sind angespannt, das spüren auch die Juden in Deutschland. Wie lebt es sich, wenn Anschläge beinahe alltäglich werden und Islamisten ihren Hass und ihre Gewalt auch gegen jüdische Mitbürger richten?

Das Leben der Juden in Deutschland hat sich verändert. (Bild: imago) © imago

München – "Ich öffne nie die Tür. Dafür haben wir den Sicherheitsdienst." Tom Ku?era, Rabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde Beth Shalom in München, hat genaue Regeln, wie er Besucher empfängt. "Bitte bringen Sie Ihren Ausweis und diese Einladung mit" steht im Mail-Anhang, den ich von ihm bekomme. Im Hinterhof der Adresse parkt ein Polizeiwagen, das Treppenhaus ist videoüberwacht, die Eingangstür hat eine Sicherheitsschleuse mit zwei schweren Türen.

All das ist für Juden in Deutschland Alltag: beten und lernen unter Polizeischutz – und dennoch offen sein, sagt Ku?era. "Wenn wir Bat-Mizwa oder Bar-Mizwa haben (Feier der Religionsmündigkeit für Mädchen und Buben), dann sind viele nicht-jüdische Gäste dabei. Wir leben nicht in einem Ghetto, wir leben in einer offenen Gesellschaft. Unsere Schülerinnen und Schüler haben gute Freunde, die sind Christen oder Muslime oder nicht-religiös. Auch unsere Familien sind immer vernetzt mit Nachbarn."

Fanatische Judenhasser

Der Würzburger Internist Josef Schuster vertritt als Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland die orthodoxen, konservativen und liberalen Gemeinden in Deutschland. Er beurteilt die Lage lakonisch: "Wir Juden fühlen uns in Deutschland sicher. Das Sicherheitsgefühl war aber auch schon größer." Auch wenn das Wort "Angst" nicht fällt, konstatiert er mit Blick auf die terroristischen Anschläge in europäischen Städten: "Fanatische Islamisten sind eben auch fanatische Judenhasser." Doch der Terror sollte kein Grund für Auswanderung sein, denn dann würden die Terroristen ja ihr Ziel erreichen, erklärt Schuster bei einem Vortrag in der Katholischen Akademie in Bayern.

"Ich komme jetzt zu dem Teil, mit dem ich mich bei Ihnen vielleicht unbeliebt mache", fügt er in seiner besonnenen und nachdenklichen Art hinzu, "ich halte es jedoch für notwendig in unserem Land, mit schonungslosem, glasklaren Blick auf die aktuelle Lage zu blicken." Und dann fällt es, das Wort "Flüchtlinge". Sie "kommen überwiegend aus Staaten, die mit Israel tief verfeindet sind. Wer mit einem solchen Feindbild groß geworden ist, legt es nicht einfach beim Grenzübertritt ab." Entscheidend sei, die Flüchtlinge mit Grundrechten wie der Religionsfreiheit vertraut zu machen und eine "emotionale Integration" zu erreichen. "Nach unserer Erfahrung dauert dies eine Generation."

Interreligiöse Bildung

Dankbar ist Schuster den Kirchen für ihre "wahrhaft christliche Willkommenskultur". Auch jüdische Gemeinden und Organisationen seien in der Flüchtlingshilfe sehr engagiert. "Wir brauchen Bürger, die sich aktiv für eine respektvolle und solidarische Gesellschaft einsetzen", appelliert Schuster an die Zuhörer in der Akademie. "Es muss unser Ziel sein, die religiöse beziehungsweise interreligiöse Bildung in Deutschland zu erhöhen." Und eindringlich bittet er darum, am jüdisch-christlichen Dialog festzuhalten – dieser könne um einen Trialog mit den Muslimen ergänzt werden.

Gerade im Alltag müssen sich Rabbiner Ku?era und seine jungen Gemeindemitglieder ab und zu mit besonderen Situationen an Schulen auseinandersetzen – etwa wenn sie als Juden aufgefordert werden, am christlichen Weihnachtsspiel mitzuwirken, oder wenn eine Mathematik-Lehrerin ihren Unterricht mit einem christlichen Gebet beginnen will. Ku?era nennt dies "Hyperaktivität der Lehrer" und sieht seine Aufgabe darin, die jüdischen Kinder in ihrer Identität zu stärken.

Recht auf Religionsfreiheit

Das ist wichtig. Denn nach einer Langzeitstudie von Leipziger Wissenschaftlern wächst in Deutschland die Abneigung gegen Muslime, Homosexuelle, Sinti und Roma. Antisemitismus in Deutschland wurde nicht explizit untersucht, doch die Forscher fassten ihre Ergebnisse zusammen unter dem Titel "Die enthemmte Mitte". Ein Beispiel für die allgemeine Ablehnung fremder Kulturen ist das Programm der AfD, das sich gegen das Schächten von Tieren ausspricht. Diese traditionelle Praxis der Juden und Muslime gehört aber zum Recht auf Religionsfreiheit.

Und wer erlebt hat, wie auf dem Münchner Odeonsplatz eine Handvoll Pegida-Anhänger das Deutschlandlied missbraucht, um anderen die Menschenrechte abzusprechen, der kann verstehen, dass Eva Umlauf sagt: "Ich fahre montags nicht mehr in die Stadt." Die Ärztin, die seit fünfzig Jahren in München lebt und zur jüdisch-orthodoxen Gemeinde gehört, ist eine der jüngsten Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz. Sie war 1942 gerade 23 Monate alt, als ihr die Nummer "A-26959" auf das Ärmchen tätowiert wurde. Heute sagt sie: "Das Erlebte tut sich im Körper und in der Seele festsetzen, sich einverleiben."

Mit der Kippa durch München

Ihre Erinnerungen hat sie gerade in einem Buch veröffentlicht mit dem Titel "Die Nummer auf deinem Unterarm ist blau wie deine Augen." 1967 kam sie aus der Tschechoslowakei nach Deutschland, heute sagt sie lächelnd: "Ich habe dort im Kommunismus gelebt, und als Jüdin konnte ich das erste Mal frei leben in München! Das klingt vielleicht paradox, ist aber meine Erfahrung." Dennoch hat auch sie hier Zeichen für Antisemitismus erlebt, etwa der anonym zugeschickte Artikel mit der Überschrift: "Wollen Sie Juden zu Nachbarn haben?" Und als ihr Sohn in einem Münchner Gymnasium als "Scheiß-Jude" beschimpft wird, erzählt er es seiner Mutter zunächst nicht, "damit du dich nicht aufregst". Der Elternbeirat wurde eingeschaltet. Am Ende hat sich der Schüler bei seinem jüdischen Mitschüler unter vier Augen entschuldigt. "Das war auch für meinen Sohn gut, dass kein großes Aufheben gemacht wurde. Das war mein ganzes Leben lang mein Motto: Nicht zu sehr auffallen!"

Das Gegenteil macht Terry Swartzberg, der seit zwei Jahren immer mit der Kippa, der jüdischen Kopfbedeckung, durch München geht. Er ist bekannt für seine Initiative "Stolpersteine", ein Projekt des Kölner Künstlers Gunter Demnig: Kleine Messing-Quader mit den persönlichen Daten von Opfern des Nazi-Regimes werden als Erinnerung auf Gehwegen verlegt. Anfang Juli lässt Swartzberg zwei Steine in der Schwabinger Franz-Joseph-Straße 19 verlegen – auf privatem Grund, denn so kann das Verbot der "Stolpersteine" durch den Münchner Stadtrat umgangen werden. Im Beisein von zahlreichen Anwohnern und Unterstützern spricht Jan Mühlstein, Vorsitzender der Liberalen Gemeinde München Beth Shalom, das Kaddisch, das traditionelle jüdische Totengebet für Amalie und Joseph Schuster – 73 Jahre, nachdem sie durch Gewalt und Terror aus ihrer Münchner Heimat und aus ihrem Leben verstoßen wurden. (Annette Krauß)

Ein Interview mit dem Rabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde Beth Shalom in München, Tom Kucera, lesen Sie in der aktuellen Ausgabe der Münchner Kirchenzeitung.