Meinung
Bitte zum Amtsverzicht

Geistliches Motiv steht vor dem politischen

Das Rücktrittsgesuch von Kardinal Reinhard Marx ist ein so noch nie dagewesenes Ereignis in der katholischen Kirche Deutschlands und in der Geschichte des Erzbistums München und Freising. Es wirkt global und lokal. Ein Kommentar von Alois Bierl.

Kardinal Reinhard Marx bat Papst Franziskus seinen Amtsrücktritt an. © Kiderle

Er war kreidebleich und dann wieder schoss ihm das Blut in den Kopf. Wer Kardinal Reinhard Marx 2018 bei der Präsentation der großen Missbrauchsstudie der deutschen Bischofskonferenz erlebte, konnte sehen, wie er körperlich unter den Verfehlungen seiner Kirche litt. Die Frage nach Rücktritten beantwortet er damals entschieden mit „Nein“. Trotzdem war schon in diesem Moment zu spüren, wie sehr diese Forderung in ihm arbeitete.

Es war gut, dass er sich für sein Rücktrittsgesuch Zeit gelassen hat. Denn in den vergangenen drei Jahren war der Münchner Erzbischof wichtiger denn je. Er hat dafür gekämpft, dass diese Studie so ernst genommen wird, wie sie es verdient. Sie hat eine existentielle Krise der katholischen Krise bestätigt und Kardinal Marx hat nicht versucht, sie zu beschwichtigen. Etwa mit dem Hinweis, wie sehr auch in anderen Institutionen sexuelle Gewalt verbreitet ist und die froh sind, dass sich die Empörung fast ausschließlich gegen die katholische Kirche richten. Denn er hat erkannt, dass eigene Strukturen, die Unangreifbarkeit von Klerikern und die Missachtung ihrer Opfer die Verbrechen zumindest begünstigt haben.

Gewichtiges Wort

Wenn ein durchaus machtbewusster Kardinal fordert, dass Macht in der Kirche nach genauen Regeln geteilt und kontrolliert werden muss, dann ist das ein gewichtiges Wort. Er hat daraus die Konsequenzen gezogen und den Synodalen Weg initiiert. Auch gegen den Widerstand anderer Bischöfe, die eine althergebrachte Autorität verteidigen, die durch den Missbrauchsskandal dramatisch geschrumpft ist und erst mühsam wieder gewonnen werden muss.

In seinem eigenen Bistum hat Kardinal Marx dafür erste Schritte unternommen, die Verwaltung neu aufgestellt und die Chefposition des Generalvikars auf zwei Personen verteilt. Er hat Experimente mit Laien in der Leitung von Pfarreien wieder zugelassen, die er zu Beginn seiner Münchner Zeit noch abgelehnt hat.

Wie der Gesamtstrategieprozess für die Erzdiözese weiter geht, bleibt nun abzuwarten. Doch vielleicht gelingt es, den lange gepflegten Münchner Zentralismus aufzubrechen, den Gläubigen vor Ort mehr Verantwortung in die Hände zu legen, mehr Subsidiarität zu wagen. Das ist ein Schlüsselbegriff der katholischen Soziallehre, die Kardinal Marx kennt und schätzt. Sie kann dazu führen, wachsamer für Machtkonzentrationen zu werden, die mit ursächlich für den ins Gigantische ausgewachsenen Missbrauchsskandal sind.

System muss sich ändern

Der Münchner Erzbischof hat durch sein Rücktrittsangebot deutlich gemacht, dass er Teil eines verhärteten Systems war. Zugleich zeigt er dadurch seine Überzeugung, dass sich dieses System grundlegend verändern muss. Das ist eine Angelegenheit aller Gläubigen. Kardinal Marx weiß, dass diese Erneuerung nicht allein von den Bischöfen zu schaffen ist und schon gar nicht durch oberhirtliche Machtworte oder Einschüchterungen. Die anstehende Veränderung ist dabei nicht vor allem ein politischer Prozess, sondern ein geistlicher. Es geht darum, dass Menschen sich nicht gegängelt und in Freiheit für Gott und seine Kirche entscheiden können. Es geht darum, dass Katholiken und ihre Hierarchie glaubwürdige Zeugen für das Evangelium sind, das unsere bedrohte Welt heute nötiger denn je braucht. Dazu gehört, dass Bischöfe nicht unter allen Umständen an ihrem Amt kleben. Kardinal Marx hat dafür ein Zeugnis gegeben.

Der Autor
Alois Bierl
Chefreporter Sankt Michaelsbund
a.bierl@michaelsbund.de