Neues Buch von Kardinal Marx

Die Zukunft der Kirche

Ist Kirche am Aussterben, gar schon tot? "Kirche überlebt" entgegnet Kardinal Reinhard Marx mit seinem neuen, gleichnamigen Buch. Er beschreibt darin, was die Kirche tun muss, um dieses Ziel zu erreichen.

Kardinal Marx ist es wichtig, dass die Kirche die Menschen wirklich erreicht, denn die Gläubigen sind es, die die Zukunft der Kirche gestalten. Unser Foto zeigt den Kardinal am 13. Juli 2013 bei einer abschließenden Brotzeit nach einem Glaubensgespräch an der Kirchenleiten-Kapelle bei Berchtesgaden. (Archivbild: Wolf/eom) © Wolf/eom

München - "Kirche überlebt": der Titel des neuen Buches von Kardinal Reinhard Marx ist weder der demonstrativ zur Schau getragene Zweckoptimismus eines hohen kirchlichen Würdenträgers noch eine religionssoziologische Zukunftsprojektion auf der Basis einer statistischen Auswertung – vielmehr spricht sich darin die Glaubensgewissheit eines Bischofs aus, der an dem Wort Jesu festhält, seine Kirche werde selbst von den Mächten der Unterwelt nicht überwältigt werden (vgl. Mt 16,18). Der Glaube, dass Christus seine Kirche nicht verlässt, „bedeutet aber nicht, dass wir nicht all unsere Kräfte, all unser Denken mobilisieren müssen, um auf die Herausforderungen der Zeit zu antworten und Kirche für die Menschen zu sein“ (Seite 14), wie Kardinal Marx schreibt. Und enorme Herausforderungen unserer Zeit sind ja nicht zu leugnen.

Auf der einen Seite stehen natürlich massive Kirchenaustrittszahlen, die man vielleicht zum Teil durch den Missbrauchsskandal und verschiedene Finanzaffären erklären kann, auf der anderen Seite steht aber die noch wichtigere Frage, wie die katholische Kirche die Menschen von heute, die geprägt sind von einer offenen, pluralen Gesellschaft, in der Gott keine Rolle mehr zu haben scheint, wirklich erreichen kann, und das ist ja das Entscheidende: Kirche ist schließlich kein Selbstzweck, sie will nicht um ihrer selbst willen besonders groß und mächtig sein, sie hat vielmehr zur Aufgabe, dass möglichst „viele Menschen Christus finden, den Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Seite 15). Dass für die Kirche in der heutigen Situation eine Neuorientierung nötig ist, denken die meisten, wie dieser Weg auszusehen habe, ist jedoch auch in der Kirche umstritten – und diese Auseinandersetzung ist nach Kardinal Marx auch unumgänglich, geht es doch um nicht weniger als darum, wie der Sendung Christi in unserer Zeit am besten nachzukommen sei.

Welt versus Kirche

Die aktuellen Schwierigkeiten der Kirche in unserer Gesellschaft liegen dem Münchner Erzbischof zufolge nicht zuletzt in einer unseligen Auseinanderentwicklung beider Realitäten in der Neuzeit begründet. Das kirchliche Lehramt hat die Ziele der Aufklärung, Autonomie der Vernunft und Emanzipation des Individuums, zunächst einmal abgelehnt – auch in Reaktion darauf, dass die Kirche ihrerseits von der Aufklärung nur als Hindernis auf dem Weg in eine freie Gesellschaft betrachtet wurde. Erst das II. Vatikanische Konzil hat hier eine ganz entscheidende Korrektur vorgenommen: Die Welt ist für die Kirche nicht ein Gegner, gegen den es die eigene Wahrheit zu verteidigen gilt, sondern die Kirche muss das Evangelium in die Welt tragen, durch ein Zeugnis in Wort und Tat. Zwischen einer verängstigten Abschottung gegenüber der Welt und einer dem Zeitgeist hinterherlaufenden Verweltlichung steht der verantwortungsvolle Einsatz der Kirche für die Welt: das berühmte „Aggiornamento“ von Papst Johannes XXIII. bemüht sich darum, die unveränderlichen Glaubensinhalte auf die Fragen der heutigen Zeit anzuwenden. Und die Kirche hat dieser Gesellschaft als kritische Wegbegleiterin einiges zu den Herausforderungen der Gegenwart zu sagen, „sie muss einen Relativismus verurteilen, der Wahrheit und Mehrheit verwechselt. Sie muss einen Kapitalismus kritisieren, wo die Armen unter die Räder kommen. Sie wird eintreten für das Leben, die Ehe und die Familie“ (Seite 120) – hier lässt es Kardinal Marx nicht an Deutlichkeit fehlen.

In ihrem Eintreten für die Wahrheit in der Welt kann die Kirche dann aber auch richtigstellen, dass sie die größtmögliche Freiheit des Menschen keineswegs ablehnt – ganz im Gegenteil, zeigt sie doch auf, was die Erlösung des Menschen von Sünde und Tod durch Christus eigentlich bedeutet: dass der Mensch dadurch befreit ist „von einem todverfallenen Egoismus, von der Unfähigkeit zur Liebe“ (Seite 44) und dass sich diese wahre Freiheit darum „mit der Gnade Gottes für das Gute öffnet“ (Seite 42). Gerade von hier aus wird dann aber auch der Einsatz der Gläubigen für die Gesellschaft selbstverständlich.

Selbstkritische Fragen sind angebracht

Wenn die Kirche sich nicht mehr prinzipiell als Gegensatz zur Welt versteht, muss sie sich andererseits allerdings auch fragen lassen, ob sie die Prinzipien, die sie von der Welt fordert, auch selbst einhält, und auch für ihre eigene Sozialgestalt müssen deshalb die Grundsätze der Katholischen Soziallehre gelten. Zwar ist die Kirche nicht ein soziales Konstrukt wie jedes andere: „Souverän in der Kirche ist Gott und nicht das Volk“ (Seite 65), darum erhalten die Ämter in der Kirche ihre Vollmacht auch nicht „von unten“, sondern sind „Gaben des auferstandenen Christus“ (Seite 64). Dennoch ist die Kirche in einer konkreten Gemeinschaft von Menschen verwirklicht, darum sind die Regelungen für das Miteinander in der Kirche auch geschichtlichen und gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen, und Kardinal Marx ist der Überzeugung, dass hier immer wieder die (selbst-)kritische Frage angebracht ist, ob im kirchlichen Miteinander wirklich das bezeugt wird, wovon die Kirche spricht.

„Kirche ändert sich“ ist das vorletzte Kapitel überschrieben, und tatsächlich ist es ja einfach ein Faktum der Kirchengeschichte, dass die Kirche immer wieder Schritte zur Erneuerung unternommen hat – ohne deswegen die Substanz der Glaubenslehre zu verändern. Dem Münchner Erzbischof ist es ein großes Anliegen, hier nicht zwei Erneuerungswege einander entgegenzustellen und einem den Vorzug zu geben. Rein quantitativ spricht sein Buch zwar deutlich mehr vom Weg struktureller Veränderungen, doch er betont mehrfach ganz ausdrücklich, dass diese Veränderungen ihren Ausgangspunkt in der Mitte des Glaubens haben und im Gebet und im Gottesdienst tief verwurzelt sein müssen: „Vielleicht ist ein vertieftes Verständnis von geistlichem Leben und Gebet tatsächlich der Schlüssel für den Weg der Erneuerung.“ (Seite 86) Strukturelle Fragen der Organisation und der äußeren Gestalt der Kirche sind demgegenüber zwar nachrangig – aber gerade deswegen dürfen sie dem eigentlichen Ziel, der Verkündigung der österlichen Botschaft für alle Menschen, niemals im Wege stehen, und deshalb sind sie auch nicht unwichtig: Wie sehr mangelhafte Verwaltungsstrukturen das Ansehen – und damit die Wirkmöglichkeiten – von Kirche beschädigt haben, konnte man eben an der skandalösen Vertuschung von Missbrauchsfällen oder am Eklat um den Holocaust-Leugner Richard Williamson sehen.

Glaube muss Quelle der Freude sein

„Kirche überlebt“, aber dazu braucht es die gemeinsamen Anstrengungen aller Gläubigen, und darum werden Gesprächsforen und synodale Formen an Bedeutung gewinnen – diese dürfen dann aber auch nicht einfach „zu einer Kopie politischer Veranstaltungen werden, wo die eine Seite von der anderen etwas fordert und Mehrheiten sich siegreich durchsetzen“ (Seite 110), ist der Münchner Kardinal überzeugt, die kirchliche „communio“ greift schließlich viel weiter aus als nur auf die gerade hier und jetzt Versammelten, bezieht in der Tradition die Kirche aller Zeiten mit ein. Vor allem müsste es auch gelingen, den Glauben bei den Gläubigen „wieder so zu verankern, dass dieser Glaube für sie nicht zunächst ein Problem, sondern eine Quelle der Freude, ja des Glücks ist“ (Seite 110), und von dieser Mitte des Glaubens aus auf alles andere zu schauen – sonst bleibt man nur an der Peripherie stehen und dringt gar nicht zum Wesentlichen vor.

In einer Zeit heftiger und in der Öffentlichkeit mit großem Interesse wahrgenommener Debatten um die Zukunft der Kirche ist das Buch des Münchner Erzbischofs ein Diskussionsbeitrag, der zu einem verantwortungsbewussten Voranschreiten ermutigt und sich gegen jede Art von Unglückspropheten wendet, die ein baldiges Ende der Kirche vorhersagen – weil sie nicht schnell genug mit der Zeit gehe, wie die einen meinen, oder weil sie sich überhaupt auf Veränderungen einlasse, wie die anderen fürchten. Simple Schwarzweißmalereien solcher Art lässt Kardinal Marx nicht gelten: „Wir dürfen nie die Flucht antreten in das Bild einer idealen Kirche der Vergangenheit oder der Zukunft ... In dieser jetzt sichtbaren, konkreten Gemeinschaft mit all ihren Schwächen ist die Kirche Christi verwirklicht“ (Seite 121). Wer das verstanden hat und im Glauben annimmt, dem muss wirklich nicht bange sein um die Zukunft der Kirche. (Thomas Steinherr)