Leben der Deutschen

Zukunftsforscher: Religiosität kehrt in den Alltag zurück

Wie sehen die Deutschen ihre Zukunft? Was ist ihnen wichtig im Leben? Seit Jahrzehnten befasst sich der Hamburger Zukunftsforscher Horst Opaschowski mit diesen Fragen. In seinem neuen Buch "Besser leben statt mehr haben" kommt er zu überraschenden Erkenntnissen.

Horst Opaschowski © Elke Opaschowski/KNA

Herr Opaschowski, Sie befragen seit 2019 jährlich 1.000 Deutsche zu ihren Lebenszielen. Was ist die zentrale Erkenntnis?

Horst Opaschowski: Es gibt überraschenderweise eine große Zuversicht bei den Deutschen, insbesondere bei der jungen Generation. Die Dauerkrisen haben nicht Lethargie gefördert, sondern die Bürger gestärkt. Den meisten Menschen ist bewusst, dass es an ihnen selbst liegt, wie sie ihre persönliche Zukunft meistern. Sie engagieren sich freiwillig in der Nachbarschaft und suchen soziale Kontakte.

Sie schreiben in diesem Zusammenhang von einem neuen Wohlstandsdenken. Was meinen Sie damit?

Opaschowski: Die Menschen in Deutschland sagen in Krisenzeiten: Wir müssen umdenken. Wir müssen Einschränkungen im Lebensstandard hinnehmen, um die Zukunft der kommenden Generation zu sichern. Wir haben bereits begonnen, unseren Lebensstil zu verändern. Wir leben bescheidener. Wir leben maßvoller. Mehr als 60 Prozent der Befragten sind gute Beziehungen zur Familie und zu Freunden wichtiger als der Besitz von Eigentum oder die Sicherheit eines regelmäßigen Einkommens. Dabei vermissen sie nichts.

Wie begründen die Befragten dieses Umdenken?

Opaschowski: Sie haben festgestellt, dass es ihnen durch materiellen Wohlstand keinen Deut besser geht. Dazu haben sicher auch die aktuellen Krisen wie Corona, der Ukrainekrieg und die Inflation beigetragen. Wohlstand ohne Wohlergehen wird nicht mehr akzeptiert. Immaterielles wird höher bewertet.

Sie schreiben in ihrem Buch, Religiosität kehre in den Alltag zurück. Was meinen Sie damit?

Opaschowski: Die Menschen sind verstärkt auf der Suche nach Sinn. Insbesondere junge Menschen interessieren sich wieder mehr für eine bessere Gesellschaft und wollen auch mithelfen, eine solche Gesellschaft zu schaffen. Damit kehrt Religiosität im Sinne eines neuen Wir-Gefühls zurück, als Familiensinn, Bürgersinn und Gemeinsinn. Der Zusammenhalt und der Glaube an gegenseitige Unterstützung geben den Menschen das Vertrauen, jede Krise meistern zu können.

Gleichzeitig verlieren die Kirchen in Deutschland seit Jahren Mitglieder...

Opaschowski: Es gibt ja schon seit Längerem einen Trend zur Abwendung von Institutionen mit der Folge massiver Mitgliederverluste. Bei den Kirchen kommt hinzu, dass sie derzeit viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Viele Menschen haben den Eindruck, dass sie keine Antworten mehr auf existenzielle Fragen bekommen. Die Kirchen müssten eigentlich die aktuelle Krisenentwicklung aufgreifen und sich offensiv für ein positives Sozialklima einsetzen.

 

Zur Person


Prof. Dr. Horst Opaschowski, geboren 1941, ist Publizist, berät Wirtschaft und Politik und lehrte über 30 Jahre an der Universität Hamburg. In Kooperation mit dem IPSOS-Institut erstellt der von der Presse auch »Mr. Zukunft« genannte Wissenschaftler seit 2012 regelmäßig den Nationalen WohlstandsIndex für Deutschland (NAWI-D). 2014 gründete er das Opaschowski Institut für Zukunftsforschung, das sich die Entwicklung von wertorientierten Konzepten zur Förderung von Wohlstand und Lebensqualität auch für die nachkommenden Generationen zur Aufgabe macht. (smb)

Viele Menschen haben das Gefühl, das Konflikte in unserer Gesellschaft zunehmen und der Umgangston rauer wird. Wie passt das zu Ihren Erkenntnissen?

Opaschowski: Die Zunahme aggressiver Stimmungen ist seit der Jahrtausendwende nachweisbar. Die aktuelle Entwicklung in Deutschland hat zwei Gesichter. Auf der einen Seite führt eine Art Sinnesüberreizung im Zeitalter der Digitalisierung dazu, dass sich Hass, Hetze und Gewalt wie eine Epidemie ausbreiten. Auf der anderen Seite tun die Menschen alles für eine Wende zum Besseren und engagieren sich entsprechend. So verbreiten sie Zuversicht, obwohl die Probleme und Risiken fast überhandzunehmen drohen. Die Menschen spielen ein doppeltes Spiel: Persönlich glauben sie an eine gute Zukunft. Gesellschaftlich sehen sie teilweise schwarz. Diese Spaltung zerreißt sie fast.

Manche jungen Menschen wollen keine Kinder mehr in die Welt setzen, weil sie etwa wegen des Klimawandels ein schlechtes Gewissen haben. Können Sie das nachvollziehen?

Opaschowski: (lacht) Das höre ich als Entschuldigung seit Jahrzehnten. Junge Leute, die vielleicht noch in der Ausbildung sind, und berufliche Pläne haben, sagen schnell: In diese Welt können wir doch keine Kinder setzen. Laut unseren Befragungen sind aber fast zwei Drittel der jungen Menschen überzeugt, dass die Ehe mit Trauschein und Kindern für sie weiterhin das erstrebenswerteste Lebensmodell ist.

Viele Menschen haben den Eindruck, dass sich die Krisen in jüngster Zeit häufen. Stimmt das?

Opaschowski: Der Eindruck ist richtig, die Krisen finden wirklich permanent statt. Als Zukunftsforscher bewerte ich manches natürlich etwas nüchterner. Ich untersuche seit den 70er Jahren den Lebensstil der Deutschen und stelle fest: Jedes Jahrzehnt hat seine Krise: in den 70er Jahren die Öl-Energie-Krise, 1986 Tschernobyl, 1991 der Golfkrieg, 2001 der 11. September und 2011 Fukushima. Gegenwärtig erleben wir doch mehrere Krisen unmittelbar hintereinander und teils zeitgleich. Es ist schon überraschend, dass ein Großteil der Bevölkerung trotzdem positiv in die Zukunft blickt. Die Bürger lernen offensichtlich, mit den Krisen zu leben oder gar krisenresistenter zu werden.

Halten Sie Künstliche Intelligenz für eine künftige Bedrohung?

Opaschowski: Eine Bedrohung nicht in jedem Fall, aber ein Risikofaktor. Die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zu dem Thema hat mich allerdings irritiert. Darin heißt es mit moralisch erhobenem

Zeigefinger: "KI darf den Menschen nicht ersetzen." Aber darum geht es doch gar nicht. KI wird den Menschen nie und nimmer ersetzen, allenfalls nur schwach kopieren können. Wohl wird sie vieles in der Gesellschaft zum Guten oder Schlechten verändern. Daher müssen wir Antworten auf die Fragen finden, ob diese Veränderungen moralisch gut sind, ob sie sozial gerecht sind und ob sie das Leben besser und lebenswerter machen. Die Uhr zurückdrehen können wir jedenfalls nicht. Wir werden mit KI weiter leben müssen.

Wie gelingt es Ihnen, Optimist zu bleiben?

Opaschowski: Ich habe wahrscheinlich schon bei meiner Geburt eine positive Einstellung zum Leben in die Wiege gelegt bekommen. Ein Zukunftsforscher, der nicht an einen Wandel zum Besseren glaubt, kann seinen Job an den Nagel hängen. (Das Interview führte Michael Althaus von der Katholische Nachrichten-Agentur)

Buchtipp

Opaschowski, Horst: Besser leben statt mehr haben

'Mr. Zukunft', Prof. Dr. Horst Opaschowski, skizziert anhand seiner aktuellsten Studien ein zukunftsfähiges Fortschrittskonzept, in dessen Zentrum wieder das persönliche und soziale Wohlergehen steht. Eine vom Wunsch nach besserem Leben geleitete Wertehierarchie, die auch kontrovers diskutierte Themen wie bedingungsloses Grundeinkommen, soziales Pflichtjahr oder Arbeiten im Alter aufgreift.

22 € inkl. MwSt.

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