Meinung
Amoklauf in München

Wunden in meiner heilen Welt

Viele Kollegen der Redaktionen des Sankt Michaelsbundes haben den Amoklauf in München und die Situation in der Landeshauptstadt miterlebt. Radioredakteurin Brigitte Strauß-Richters wohnt mit ihrer Familie im Olympiadorf in unmittelbarer Nähe zum Tatort.

Brigitte Strauß-Richters ist Radioredakteurin beim Sankt Michaelsbund (Bild: Sankt Michaelsbund/KSchmid) © Sankt Michaelsbund/KSchmid

München – Es ist Tag zwei nach dem Attentat am OEZ. Ich kann noch immer nicht wieder klar denken, versuche einzuordnen, was da passiert ist. Auch mit mir. Freitagabend saß ich auf der Couch und telefonierte mit der Mutter einer Mitschülerin meines Sohnes. Wir haben Probleme gewälzt, die unsere Kinder gerade belasten. Einige sogar schwer belasten. Mein Sohn kommt nach Hause und brabbelt sauer vor sich hin. Irgendwas, dass der Bauwagen schon zu ist, obwohl es doch noch gar nicht halb sieben ist. Ich höre gar nicht richtig hin, sage ihm, er soll kurz still sein, weil ich telefoniere. Da stürmt mein Mann rein mit dem Handy in der Hand, am anderen Ende der Leitung mein Schwiegervater aus Österreich, der es in den Nachrichten gesehen hat und wissen will, ob es uns gut geht. Wir legen auf und schalten den Fernseher ein.

Jetzt wird mir klar, warum der Spieltreff zu ist. Er liegt im Olympiadorf, an der Seite, an der es zum OEZ geht. Sind nur ein paar hundert Meter bis dort hin. Freitagsnachmittags gehe ich oft dorthin, um noch schnell was zu besorgen. Gerne auch mit meinem Sohn, denn dort gibt’s gutes Eis. So ein Glück, dass wir heute was anderes vorhatten. Glück? Jetzt geht das Telefon ununterbrochen, SMS und Whatsapp im Minutentakt. Meine Großfamilie aus ganz Deutschland, Freunde aus Hamburg. Nachdem viele Bekannte auf Facebook nachgefragt haben, stelle ich meinen Status auf „sicher“. Sicher? Im Fernsehen sehe ich ein wackeliges Video, auf dem ein Mann vor dem McDonald´s steht, in dem meine Männer vor ein paar Tagen ihrer Junk-Sucht gefrönt haben. Einmal im Monat dürfen sie das hemmungslos, hatten wir beschlossen. Dann finden wir auf Twitter das zweite Video vom Dach des Parkhauses. Wir sehen die Bilder vom Mona-Einkaufszentrum, vor dem Polizeiwagen an Polizeiwagen steht. Ich kenne jeden Zentimeter, der gezeigt wird. Frage mich: Doch nicht im OEZ, sondern davor? Mackie liegt auf der anderen Seite, Mona neben dem OEZ. Man redet von einem oder mehreren Tätern. Die Polizeiwagen fahren immer wieder in unterschiedliche Richtungen. Verdammt – was ist da los? Aber egal, wer oder was oder wie viele: Ein paar hundert Meter von uns entfernt rennt mindestens einer mit einer Waffe durch die Gegend und ballert um sich. Und ist auf der Flucht. In welche Richtung? Ich gehe die Möglichkeiten durch. Wenn es ein Terroranschlag ist, dann hätte das Olympiadorf eine symbolische Bedeutung. Wir wohnen im Erdgeschoss. „Halt mich für paranoid,“ sage ich zu meinem Mann, „aber ich mache jetzt die Rollladen runter.“ „Du spinnst“ sagt er, lässt mich aber machen. Es ist heiß.

Mein Sohn will „das“ jetzt nicht schon wieder sehen, er will den Family-Cartoon. Gute Idee, denke ich, dann wird er abgelenkt. Ich setze mich neben ihn, will ihn keine Sekunde allein lassen. Überlege, wenn einer ins Fenster schießt, wo der kleine Kerl am sichersten ist, wohin wir uns verstecken könnten. Und halte mich gleichzeitig für total bescheuert und übertrieben. Dann fällt uns sein bester Freund ein und seine Eltern und damit unsere Freunde. Die wohnen auf der anderen Seite vom OEZ, etwa genauso weit entfernt wie wir. Ich rufe dort an. Meine Freundin ist genauso durch den Wind wie ich. Bei ihr vor der Tür sind massenweise Menschen vorbei gekommen, die aus dem OEZ evakuiert worden waren. Ihr Mann ist von Kollegen noch zu einem Feierabendbier überredet worden. Als er auf dem Heimweg noch schnell was im OEZ besorgen wollte, ist er schon an den Polizeisperren gelandet. Gute Kollegen, gutes Feierabendbier. Auf Facebook lese ich von einer Nachbarin, die am Nachmittag mit ihren zwei Töchtern im OEZ war und die viel früher zurück sind, weil sie plötzlich keine Lust mehr hatten. Sie dankt ihrem Schutzengel. Guter Schutzengel, denke ich. Die, die keinen Schutzengel hatten, kommen mir nicht in den Sinn. Nur die, die von Polizisten evakuiert werden. Die Gesichter der Polizistinnen und Polizisten fallen mir ein, die in Vierergruppen durchs OEZ streifen, die Waffen in alle vier Richtungen. Und die Angst und Anspannung in ihren Augen. Die Gefahr ist präsent, die Opfer sind es nicht.

Stundenlang gibt’s nichts Neues. Außer, dass die GSG9 angefordert ist. Gegen zehn bringe ich den Kleinen zum Schlafen. Im Ehebett. Vorm Einschlafen hat er noch eine Menge Fragen. Und alles, was ich ihm sagen kann, ist: ich weiß auch nichts Genaues. Aber ich weiß, das da draußen die besten Polizisten aus ganz Deutschland unterwegs sind, um die Täter zu kriegen. „Wirklich?“ fragt er. „Ja. Hör doch mal, da draußen fliegen doch noch die Polizeihubschrauber. Die geben nicht auf, bis sie die haben. „Und dann werden die eingesperrt!“ jubelt er. „Ja“sage ich und bin stolz auf den jungen Mann, dass er nicht fordert, dass sie dann niedergeballert werden sollen. Und stelle fest, dass Niederballern die Assoziation ist, die mir bei „Täter finden“ kommt.

Ein BR-Reporter berichtet dann von einer Leiche, die am Eingang zum Olympiadorf gefunden worden ist, bei der es sich um einen der Täter handeln könnte, weil er einen roten Rucksack dabei hatte. Die Moderatoren, die in Berlin oder Köln sitzen, gehen auf das Wort „Olympiadorf“ statt „Olympiaeinkaufszentrum“ gar nicht ein. Wie auch. Beim Kommentieren der Lagepläne haben sie ja auch alles falsch gesagt. Mona, OEZ, Mackie – das konnten die ja gar nicht zuordnen. Aber ich. Und Olympiadorf heißt: der ist geradewegs in unsere Richtung unterwegs gewesen. Mir wird heiß und kalt, die Haare an meinen Armen stellen sich auf. Die Nachrichtenlage bleibt weiterhin unklar. Wenn diese Leiche einer der Täter ist und es mehrere gab, dann sind die sicher in unterschiedliche Richtungen geflohen. Wahrscheinlich Richtung Innenstadt, denn da jagen sich die Gerüchte von Schüssen in allen Stadtteilen. Das heißt: unsere Richtung ist jetzt sicher. Oder so.

Ich werde etwas ruhiger, aber klebe weiter am Fernseher und am Handy. Bin dankbar für diesen besonnenen Polizeisprecher, der mir sagt, was er sagen darf und mir erklärt, warum was nicht gesagt wird. Ich fühle, die machen einen guten Job. Das Wort „Olympiadorf“ fällt zwar noch ein paar Mal, aber meistens heißt es nur „etwa 500 Meter vom Tatort entfernt“. Das passt auch. Ein Roboter soll den Rucksack untersuchen. Eine Bombe direkt vor unserer Haustür?

Erst nach Mitternacht kommen nach und nach Meldungen, dass es sich um einen Einzeltäter gehandelt haben könnte. Ich warte noch die Pressekonferenz um zwei Uhr ab. Da ist klar: die anderen Täter, nach denen noch gesucht worden war, waren keine Täter, sondern sind aus irgendwelchen anderen Gründen ins Auto gesprungen und davon gejagt. Die Polizei hat sie gefunden und das geklärt. Der Tote war ein Einzeltäter. Ich gehe ins Bett, schreibe meiner Familie noch mal, dass es uns gutgeht.

Der Tag danach

Ich wache neben meinen Männern auf. Es ist erst sieben Uhr. Mein erster Griff geht zum Handy. Jemand hat eine Zeichnung gepostet mit dem Münchner Kindl, das weint und eine geknickte Blume in der Hand hält. Tränen rollen mir übers Gesicht. Blöde Kuh, denke ich, uns geht’s doch gut. Die Anspannung, denke ich weiter.

Es fühlt sich unwirklich an. Wir ziehen die Rollladen hoch, öffnen die Fenster. Kinderlachen. Das tut so gut, nachdem gestern Abend außer Hubschraubern kein Laut zu hören gewesen ist. Nach dem Frühstück formuliere ich, dass ich gerne rausgehen möchte, um zu verstehen, was wo passiert ist. Ich möchte wissen, wo mein Sohn in nächster Zeit besser nicht spielen soll.

Als wir uns auf den Weg machen wollen, merke ich, dass die Wohnungstür doppelt abgeschlossen ist. Das hatte ich nicht gemacht. Mein Mann lächelt und sagt: „Ich habe mir erlaubt, dein Sicherheitskonzept zu optimieren“. Ich lächle zurück und verstehe. Dann gehen wir los, mit einer Kerze in der Tasche. Unterwegs kommen uns viele Menschen entgegen. Leise, in Handys vertieft, mit Kameras. Was auffällt: Wenn Fremde etwas zueinander sagen, zum Beispiel, weil ein Fußgänger einem Fahrradfahrer Platz macht, ist der Tonfall freundlich, fast behutsam. Unterwegs gibt’s keine Absperrungen. Wo der Täter sich umgebracht hat, können wir nicht feststellen. Aber es war offenbar keiner der üblichen Spielplätze unseres Sohnes. Das beruhigt mich. Die Wunden in meiner heilen Welt sind nicht so nah, wie befürchtet.

Wir gehen bis zu der Ecke, an der tags zuvor die Reporter standen. Ü-Wagen und Fotografen gibt es noch immer. Aber auch hier stille, freundliche Menschen, die Blumen niederlegen oder eine Kerze anzünden. Ich habe nicht das Gefühl, das jemand gaffen will. Oder bin ich selbst Gafferin? Wir gehen zurück. Sehr still und nachdenklich. Wieder im Olympiadorf gehen wir in unsere Kirche. Dort zünden wir jeder noch eine Kerze an und stellen sie zu den vielen anderen, die dort schon stehen. Auf einem kleinen handgeschriebenen Schild steht: Wir trauern mit den Angehörigen der Opfer des Amoklaufs im OEZ. Ein Buch für Gebetsanliegen liegt daneben. Ich versuche meine Gedanken in Worte zu fassen – es geht nicht. Wir gehen heim. Jeder macht etwas für sich allein. Computer spielen, Fernsehen, noch ein bisschen was arbeiten. Abends schläft unser Kind wieder im Ehebett.

Sonntag

Heute ist Kindergottesdienst. Wir beginnen mit der ganzen Gemeinde und singen „Laudate Omnis“ - ein langsames, tröstliches Lied. Es ist mir noch nie so unter die Haut gegangen. Ich hatte das Gefühl, da singen und denken alle das selbe. Wir sind irgendwie miteinander verbunden. Das Thema im Kindergottesdienst ist: Wie stelle ich mir Gott vor? Der Amoklauf ist kein Thema, bis zum Vaterunser am Ende. Da denken wir besonders an die Opfer und ihre Angehörigen. Für die Kinder scheinbar eine gute Lösung. Sie sind froh, wieder etwas Normalität zu haben und spielen sehr ausgelassen.

Nach dem Gottesdienst reden wir. Eine Freundin sagt: „Es tut so gut, alle gesund hier zu sehen“. Eine andere nimmt mich spontan in den Arm. Alle hatten die gleichen Ängste wie ich. Die anderen Erdgeschossbewohner hatten auch die Rollos runter, hatten sich auch überlegt, welchen Weg der oder die Täter nehmen könnten, wie sie ihre Kinder schützen können. Oder sich gleich hinter das Sofa gesetzt beim Fernsehen. Und dann kamen noch die Schreckensgeschichten dazu. Von dem Sohn, der um viertel vor sechs noch im OEZ war und ein Buch abgeholt hat. Und Gott sei Dank sofort nach Hause gegangen ist. Nicht dem Amokläufer in die Arme gelaufen ist.

Am Nachmittag machen wir eine Radtour mit einigen Familien. Es tut so gut, einfach etwas Schönes zusammen zu machen. Der Amoklauf ist immer mal wieder kurz Thema – aber nicht mehr so intensiv. Er schwebt mit. Was wichtig ist, ist gesagt. Auch wir gehen sehr behutsam miteinander um.

Was ich heute in den Nachrichten höre, schockiert mich noch immer. Junge Menschen gezielt von einem kranken jungen Menschen umgebracht. Ein kleiner Junge, der verletzt wurde, hat die OP überstanden – es geht ihm besser. Aber das geht nicht mehr so tief rein. Es ist keine Bedrohung mehr für uns. Bin ich wirklich so eine Egoistin?

Morgen gibt es einen ökumenischen Gottesdienst. Ich will hingehen. Will mit anderen Menschen zusammen sitzen, die Menschenleben und Menschenwürde für das Wichtigste auf der Welt halten. Ich möchte einfach leben, friedlich leben. Mit vielen anderen friedlichen Menschen zusammen. Vielleicht ist es das, was die Gemeinschaft der Gläubigen ausmacht. Und dabei ist es mir völlig egal, wie sie ihren Schöpfer nennen oder wie sie sich das Leben nach dem Tod vorstellen. Mit Menschen eben. Brigitte Strauß-Richters