Soziale Gerechtigkeit

Wir müssen das Gemeinwohl wiederentdecken

Gerade die Coronakrise zeigt, dass nicht alle Lebensbereiche nach Marktmechanismen funktionieren. Gerechtigkeit und Gemeinwohl brauchen andere Denkweisen.

Die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände leisten einen großen Beitrag zum Gemeinwohl. © Jacob Lund - stock.adobe.com

"‘Caritas in veritate‘ ist das Prinzip, um das die Soziallehre der Kirche kreist, ein Prinzip, das in Orientierungsmaßstäben für das moralische Handeln wirksame Gestalt annimmt. Besonders zwei von ihnen möchte ich erwähnen, die speziell beim Einsatz für die Entwicklung in einer Gesellschaft auf dem Weg zur Globalisierung erforderlich sind: die Gerechtigkeit und das Gemeinwohl" (Enzyklika von Papst Benedikt XVI. Caritas in veritate, Nr. 6).

Als die päpstliche Enzyklika vom 29. Juni 2009 veröffentlicht wurde, lag der Ausbruch der Finanzkrise gerade einmal zehn Monate zurück. In der Zwischenzeit war offenbar geworden, dass eine Mischung aus Gier, Ruchlosigkeit, krimineller Energie, Fehlkalkül und Leichtsinn den "Crash" herbeigeführt hatte. Der Sektor, der als Inbegriff eines funktionierenden Markts gegolten hatte, musste durch massive staatliche Intervention gerettet werden. Der Markt war fehlbar, der Staat unverzichtbar, das war die Lektion.

Orientierungsmaßstab moralischen Handelns

Doch bei genauem Hinsehen wurde deutlich, dass der Staat weniger die Banken als deren Eigner und die Banker gerettet hatte. Zu dem Zeitpunkt, als die Enzyklika veröffentlicht wurde, begannen die Boni bereits wieder zu sprudeln. Es war als höchste Zeit, daran zu erinnern, dass „Gerechtigkeit“ und „Gemeinwohl“ der Orientierungsmaßstab moralischen Handelns sein müssen.

In der Finanzkrise wie aktuell in während der Corona-Pandemie zeigt sich, dass der deutsche Sozialstaat in der Lage ist, schwere soziale Verwerfungen zu vermeiden. Im Ausland staunt man über Deutschland. Das Kurzarbeitergeld stößt auf großes Interesse und findet Nachahmer. Der deutsche Sozialstaat funktioniert, "Deutschland ist gerechter als wir meinen", urteilt der langjährige Geschäftsführer der Caritas Deutschland, Georg Cremer, zurecht.

Das heißt nicht, dass es nicht Defizite gäbe. Der deutsche Sozialstaat ist oftmals nicht zielgenau genug. Nicht jeder bekommt die Hilfe, die er braucht. Aber Deutschland ist auch kein "Suppenküchensozialstaat". Stärker hingegen hapert es bei der Gleichheit. Die Ungleichheit wächst. Das ist Folge einer Wirtschaftsordnung, die das Gemeinwohl aus dem Auge verloren hat. Dabei hatte schon der große Ökonom Karl Polanyi in seinem Buch "Die große Transformation" aus dem Jahr 1944 davor gewarnt, alle Lebensbereiche dem Marktmechanismus zu unterwerfen, weil das zur Zerstörung der Gesellschaft führen werde.

Dysfunktionalen Ergebnisse

Wenn viele Millionen Menschen und Familien in Deutschland 40, 50 und sogar 60 % ihres Haushaltseinkommens für die Miete ausgeben müssen, mag der Markt aus betriebswirtschaftlicher Sicht funktionieren, aus sozialer Perspektive führt er zu dysfunktionalen Ergebnissen. Es ist nachvollziehbar, wenn ein Unternehmen aus betriebswirtschaftlichen Gründen den Ausbau des Internets in der Fläche unterlässt. Für die Menschen im ländlichen Raum bringt das erhebliche Nachteile nach sich. Was nutzt der Online-Unterricht, wenn das Internet nicht funktioniert?

Die Gleichungen "privat=gut und öffentlich=schlecht" stimmen also nicht. Die Summe der millionenfach aus betriebswirtschaftlicher Sicht richtigen Unternehmensentscheidungen führt nicht automatisch bzw. in allen Fällen zu sozial effizienten Ergebnissen. Umgekehrt ist der Staat nicht von vorneherein ein unfähiger Investor und Unternehmer. Letztlich entscheidend ist, dass ohne ein vielfältiges, allgemein verfügbares und zugängliches Netz an öffentlichen Leistungen – materiell wie immateriell – jede privatwirtschaftliche Tätigkeit auf tönernen Füßen stünde.

Sozialer Zusammenhalt

Nicht ein hohes Abgabenniveau ist ein Hindernis für wirtschaftliches Wachstum, sondern eine schlechte technische, soziale und administrative Infrastruktur. Ein hohes Niveau an öffentlichen Leistungen bedeutet also nicht nur hohe Kosten, sondern auch hohen Nutzen. Das Foundational Economy Collective hat auf die elementare Bedeutung dieser "Fundamentalökonomie" für unseren Wohlstand hingewiesen. Dieser ist das Werk einer großen Gemeinschaft, die maßgeblich auf den Werten von Freiheit und Solidarität– dem Gemeinwohlgedanken – beruht, der zur Marktwirtschaft nicht im Gegensatz steht, sondern ihr Komplementär ist.

Das Gemeinwohl ist aber nicht alleine Aufgabe des Staates. Die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände können hierbei eine wichtige Rolle spielen. In der 3.200-Seelen-Gemeinde Wolframs-Eschenbach hat die Kommune zusammen mit einem Sozialunternehmen eine kommunale Bäckerei errichtet. Nicht das Streben nach Gewinn hat den Ausschlag gegeben, sondern der Wunsch, die Teilhabe und den sozialen Zusammenhalt im Ort zu stärken. Den Bemühungen sind Erfolg und viele Nachahmer zu wünschen. (Prof. Dr. Stefan Schieren, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt)