Berufung

Wie das Olympia-Attentat Hans Lyer dazu bewegte Priester zu werden

Das Olympia-Attentat von 1972 hat nicht nur die Spiele von München verändert. Für Hans Lyer war es der letzte Anstoß für eine radikale Lebenswende: vom Postbeamten und Wehrpflichtigen zum Priester.

Für Hans Lyer wurde das Olympia-Attentat zum Berufungserlebnis. © Christian Wölfel/KNA

Bamberg/München – "Es war wie ein Schlag auf den Kopf, wir waren ja im Grunde in einer großen Friedensstiftung, ein Hauch von Shalom", erinnert sich Hans Lyer. Er ist am 5. September 1972 als Soldat in München. An jenem Tag also, an dem acht bewaffnete palästinensische Terroristen im Olympischen Dorf in München israelische Sportler als Geiseln nehmen. Das Attentat verändert das Leben von Hans Lyer. Aus dem Wehrpflichtigen, der vorher Postbeamter war, wird ein Priester. Er will wissen: "Woher kommt der Terrorismus und die Scheiße in dieser Welt? Woher kommt das Böse?"

Wehrdienst bei den Olympischen Spielen

Hans Lyer wird in Bamberg in einer einfachen Familie geboren. Seine Eltern führen einen Milchladen. Mit 16 Jahren macht er seinen Hauptschulabschluss, fängt eine Lehre bei der Post an. Etwas Bodenständiges eben, erinnert er sich. Die Kirche spielt eine selbstverständliche Rolle in Bamberg, noch heute schwärmt er von den Kaplänen seiner Jugend, die nah am Leben gewesen seien. Aber da ist auch die Enge "zwischen Bratwurst und barocken Prozessionen".

1971 wird er zum Wehrdienst einberufen: "Ich weiß es noch genau, es war der Franziskustag, 4. Oktober." Lyer kommt zu einem Fernmeldebataillon in Dillingen an der Donau. Von dort aus wird der Trupp zur Unterstützung nach München entsandt, um auf Lochstreifen die Programme für die Olympischen Spiele zu schreiben, im Organisationskomitee.

Dem Bösen das Evangelium entgegensetzen

Dann ein echter Höhepunkt: die Eröffnungsfeier, "eine Stunde vorher bekamen wir die Freikarten". An die Ansprache des damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann erinnert er sich noch genau, so wie an viele andere Details: den Marathon, bei dem ein Zuschauer noch vor dem eigentlichen Sieger unter Jubel ins Stadion einläuft, den technisch unsauberen Vierer im Rudern. Das alles ist nach dem 5. September anders, für die Welt und für Lyer. "Mir wurde klar, dass das Evangelium, die Sache des Reiches Gottes, das sein könnte, was man dem Bösen entgegenzusetzen hat."

Er holt am Abendgymnasium sein Abitur nach, studiert in Tübingen Theologie. Seine Eltern sind gar nicht begeistert. Doch Lyer will Priester werden, mit aller Konsequenz, "radikal, ganz oder gar nicht". Und auch ein bisschen anders, ein bisschen widerständig ist er. Der Geistliche, der gar nicht wie einer aussieht: mit blauem Baumwollhemd, Jeans und Army-Cap.

Gefängnisseelsorger und Pyrotechniker

Dem Thema des Bösen bleibt er aber stets treu. Lyer wird Gefängnisseelsorger im Jugendknast im oberfränkischen Ebrach. "Mir sind Menschen begegnet, die im Namen des Volkes schuldig gesprochen wurden, die Böses getan haben, aber denen man auch Böses zugefügt hat, in ihrer Kindheit meistens", so der Seelsorger. Wenn das Böse offensichtlich vor einem liege, dann seien die Opfer zuerst in den Blick zu nehmen. Das habe er auch immer in den Beichtgesprächen mit Mördern und Dealern gesagt. "Ich möchte nicht an einen Gott glauben, der hinter dem Rücken der Opfer vergibt. Das kann nicht sein", sagt Lyer.

Doch auch das Heitere darf bei dem heute 71-Jährigen nicht fehlen. Schon als Jugendlicher fasziniert ihn das Feuerwerk zur Sandkirchweih in Bamberg. Lyer wird selbst zum Pyrotechniker, hilft heute noch den Profis, den Himmel erstrahlen zu lassen.

Wenn es mal ruhig sein soll, dann zieht es den Seelsorger aufs Wasser. Mit einer Gondel fährt er dann über Regnitz und Kanal. Trotz Ruhestand ist Lyer noch immer aktiv: Zuletzt sorgte er mit dafür, dass seine Kirche, Sankt Elisabeth in der Sandstraße, acht Fenster von Malerfürst Markus Lüpertz bekommt. "Ich habe in Markus einen Freund gefunden, und der hat für mich auch so etwas verkörpert von diesem Widerständigen. Nicht alles hinnehmen, auch Fragen stellen, unbequem sein, manchmal Leute sogar irritieren." (Christian Wölfel/KNA)