Caritas und Nächstenliebe

Wer ist mein Nächster?

Die Frage nach dem Nächsten stellen schon die Pharisäer in der Bibel. Jesus hat darauf eine klare Antwort, die Caritas auch.

Nächstenliebe gehört für die Caritas zum Auftrag Jesu. © Syda Productions - stock.adobe.com

Wie so oft beantwortet Jesus eine solche Frage nicht mit einer Erklärung oder einer Definition oder einer langen theoretischen Abhandlung. Stattdessen erzählt er eine Geschichte. Geschichten sind anschaulich und lebensnah. Sie finden Zugang nicht nur zum Kopf, sondern auch zum Herzen. Ihre Botschaft ist verständlich, findet Widerhall und kann darum das Denken, Reden und Handeln der Menschen verändern.

Auf die Frage des Pharisäers, wer denn mein Nächster sei (Lk 10,29), erzählt Jesus die Geschichte vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30–37). Sie gehört zu den bekanntesten Erzählungen nicht nur unserer Heiligen Schrift, sondern der Weltliteratur. Gestalten wie der barmherzige Samariter haben einen festen Platz im kulturellen Gedächtnis des Christentums und weit darüber hinaus. Die Erzählung besagt schlicht und einfach, dass einem Menschen, der in Not geraten ist, geholfen werden muss. Da gelten keine Ausreden. Und auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaft, einem Volk oder einer sozialen Schicht kann kein Hinderungsgrund sein, die notwendige Hilfe zu gewähren.

Gott schließt niemanden aus

So selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, ist diese Denkweise allerdings nicht. Denn die Hilfsbereitschaft ist dort meist stärker ausgeprägt, wo es um die Kreise geht, in denen man sich vorwiegend bewegt: die Familie, den Freundeskreis, die Clique, die Gleichgesinnten oder das eigene Volk. Das ist verständlich und nachvollziehbar. Und doch wird damit der Kreis der Nächsten ziemlich eng gefasst und eingegrenzt.

Jesus hat den Kreis größer gezogen. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter lässt keinen Zweifel: Niemand ist von der Sorge um den Nächsten ausgeschlossen. Weil Gott niemanden ausschließt, darf auch der Mensch niemanden ausschließen.

Angebote der Caritas sind offen für alle

In allen relevanten Grundlagentexten der Caritas wird einhellig festgehalten: Die Angebote der Caritas sind offen für alle. Niemand wird ausgegrenzt. Für die Hilfe und Unterstützung spielen die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, zu einem Volk oder einer Religion, aber auch die persönliche Identität und Orientierung keine Rolle. Es gibt keine Ausschlusskriterien, wenn es darum geht, Menschen zu begleiten, zu beraten, zu pflegen, zu betreuen, zu behandeln oder zu heilen. Darüber gibt es in der Caritas keinen Dissens.

Was hier so selbstverständlich klingt, ist allerdings gesellschaftlich nicht immer akzeptiert. Das kann man gut an zwei Beispielen festmachen. Zu den Klientinnen und Klienten der Caritas gehören auch Obdachlose und Wohnungslose, Suchtkranke und Drogenabhängige, verhaltensauffällige und aggressive Menschen bis hin zu solchen, die straffällig geworden sind und anderen nicht selten schweres Leid zugefügt haben. Gegen diese Hilfe gibt es Vorbehalte. Muss man diesen Menschen wirklich helfen? Sind diese nicht selber schuld an ihrer Situation?

Die Antwort der Caritas ist eindeutig: Auch diese Menschen brauchen Hilfe! Auch diese sind nicht ausgeschlossen aus dem Kreis der Nächsten. Die Arbeit mit den genannten Personengruppen gehört im Übrigen zu den schwierigsten und anspruchsvollsten Aufgaben der Caritas. Gerade hier ist soziale Arbeit keine betuliche oder beschwichtigende oder blauäugige Tätigkeit, sondern harte Arbeit, weil es darum geht, aus einer verkorksten Biographie neue Wege und Perspektiven zu eröffnen.

Alle sind in gleicher Weise unsere Nächsten

Ein zweites Beispiel: Als vor wenigen Jahren eine große Zahl von Flüchtlingen in unser Land kam, war die Hilfsbereitschaft bekanntlich sehr hoch. Ganz selbstverständlich wurden die Ankommenden als unsere Nächsten betrachtet, die man unterstützen muss. Nach einer gewissen Zeit war diese Stimmung nicht mehr eindeutig. Vorbehalte kamen auf. In der öffentlichen Debatte zeigten sich zunehmend Feindseligkeit und offene Ablehnung. Die Abschiebung wurde zum dominierenden Leitwort.

Die Caritas hat sich davon niemals anstecken lassen. Bis heute erfüllt die Flüchtlingsberatung beharrlich ihren Dienst. Nüchtern und professionell wird das individuelle Schicksal der Flüchtlinge in den Blick genommen. Niemand wird ausgeschlossen und pauschale Bewertungen, die immer wieder zu hören sind, haben keinen Platz in der Arbeit mit Flüchtlingen.

Eine besondere Herausforderung bildet die durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ausgelöste Flüchtlingsbewegung. Mit Unterstützung des Landes Bayern konnte die Flüchtlingsberatung deutlich ausgebaut werden. In der Bevölkerung besteht weiterhin eine hohe Bereitschaft, die Flüchtlinge zu unterstützen. Allerdings geht damit eine gewisse Gefahr einher, dass Flüchtlinge aus anderen Ländern aus dem Blick geraten. Da macht sich schon mal die Auffassung breit: Flüchtlinge aus der Ukraine sind eher unsere Nächsten, Flüchtlinge aus Afghanistan oder Syrien sind es weniger. Für die Caritas aber ist klar: Alle sind in gleicher Weise unsere Nächsten. So entspricht es dem Wort und dem Beispiel Jesu Christi. (Prälat Bernhard Piendl, bayerischer Landes-Caritasdirektor)