Das Leiden und die Karwoche

Wenn auch uns Todesangst befällt

Die Karwoche - eine Phase der Empathie für das Leiden - wurde aus dem kirchlichen und gesellschaftlichen Leben immer stärker ausgeblendet. Angesichts von Pandemie und Krieg kehrt sie zurück - als Zeit der Besinnung.

Ob der Impetus auf dem Leiden Jesu oder dessen Transzendenz liegt, bestimmt wesentlich das Christus-Bild. © thanasak - stock.adobe.com/flordigitalartist - stock.adobe.com

Das Osterfest ist für Katholiken wie für Protestanten der höchste Feiertag im kirchlichen Jahreskreis. Dennoch gibt es zwischen den beiden Unterschiede in der Akzentuierung der Passionsgeschichte. Im evangelischen Glauben steht eher das Leiden Jesu im Mittelpunkt der Theologie, während die katholische Lehre ihren Schwerpunkt auf das Licht der Auferstehung in der Osternacht legt.

Das alles könnte man als eine religionsinterne Petitesse abtun, wenn es nicht unter den Konfessionen deswegen schon früher wechselseitige Kränkungen gegeben hätte. So sollen die Katholiken am Karfreitag ihre Wäsche gewaschen haben, um die Protestanten zu brüskieren. Diese rächten sich, indem sie an Fronleichnam ihre Felder düngten. Solche Geschichten hört man noch gelegentlich von alten Bauersfrauen in Gegenden, wo die Konfessionen sich früher separierten.

Jesus als Leidensgenosse

Ob der Impetus auf dem Leiden Jesu oder dessen Transzendenz liegt, bestimmt wesentlich das Christus-Bild. Ein vom Schicksal schwer geprüfter frommer Mensch spiegelt sich mit Vorliebe im Schmerzensmann. Er weiß in ihm einen Leidensgenossen, der ihm zugleich einen Weg aus seiner Not weist. Im intensiven Nacherleben des Passionsweges spiegelt sich die eigene Leiderfahrung. Das spendet Trost.

Diejenigen, die den Akzent ihres Glaubens vom Leiden Jesu auf die Auferstehung legen, für die ist die Karwoche lediglich ein leidiges Durchgangsstadium, das es notabene für die Dramaturgie braucht, damit der Lichterglanz in der Osternacht umso heller erstrahlt. Jedes Leiden relativiert sich angesichts des Heils, das durch die Transzendenz des Gottes Sohnes entsteht.

Entsagung im Urlaub?

In unserer säkularen Welt steht die Karwoche schon lange nicht mehr für das Eingedenken an das Leiden Jesu, sieht man einmal davon ab, dass es in einigen Bundesländern noch Tanzverbot gibt oder es sich eingebürgert hat, an Karfreitag Fisch zu essen. Ansonsten ist diese Woche ein wichtiger Bestandteil der Ferien. Freizeit soll voll ausgeschöpft werden. Und wer möchte schon im Urlaub Entsagung üben?

Dieses Jahr aber könnte wieder alles anders werden, nachdem schon die Corona-Pandemie das Leiden als Existenzform wieder in unser Bewusstsein gerückt hat. Indem der russische Präsident Wladimir Putin einen Angriffskrieg gegen seinen Nachbarstaat Ukraine begonnen hat, brachte er Tod und Zerstörung zurück auf europäischen Boden und setzte damit die größte Flüchtlingsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg in Gang.

Corona: Kriseninstrumente versagten

Die alte Theodizee-Frage über Sinn- oder Sinnlosigkeit des Leidens rückt dadurch unweigerlich weiter ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Bisher waren wir gewohnt, die Leiden, die uns ereilten, mit unseren technischen Mitteln zu managen. Doch das, was in den vergangenen zwei Jahren über uns hereinbrach, war zunächst größer als wir. Und all unsere Kriseninstrumente versagten erst mal. Die Pandemie ließ uns aber wenigstens noch im Glauben, dass wir keinen Einfluss auf deren Entstehung hatten und deshalb auch nicht schuldig wurden.

Bei einem Krieg aber ist das anders. Er ist menschengemacht und kann nur mithilfe von Menschen beendet werden. Der russische Raketenbeschuss und weitere Gräuel zerfetzten unseren Traum von einer friedliebenden Gesellschaft. Überwunden geglaubte geopolitische Auseinandersetzungen in Europa werden nun unsere Zukunft massiv bestimmen.

Plötzlich klingen die Kirchenlieder aus dem Dreißigjährigen Krieg wieder erschreckend aktuell. Die Verheerungen dieser Tage in der Ukraine mit all ihren Folgeerscheinungen für Deutschland rücken auch das Leiden Christi wieder mehr in unser Blickfeld, ebenso die Bibelszene im Garten Gethsemane. Vor seinem Kreuzestod hatte sich Jesus hier von seinen Jüngern abgesondert, um Abschied von der Welt zu nehmen. Dort befällt den späteren Todesüberwinder auch die Todesangst: Er hoffte, dass dieser Kelch noch an ihm vorübergehen möge. Näher kann er uns in dieser Karwoche damit nicht sein. (Andreas Öhler/kna)