Weihnachtsbrief

Kardinal Marx: Gott teilt das Leben mit den Menschen

Kardinal Reinhard Marx schreibt in seiner Weihnachtsbotschaft über das Erwarten und ermutigt sich für die Ankunft des Herrn vorzubereiten.

Kardinal Marx wendet sich mit einer Weihnachtsbotschaft an die Menschen. © EOM/Lennart Preiss

Liebe Leserinnen und Leser,

wenn Sie liebe Gäste erwarten, die Sie eingeladen haben: Wann öffnen Sie die Tür? Nach dem dritten Klingeln und in aller Gemütsruhe? Oder stehen Sie schon bereit, sobald die Ankunftszeit nahe rückt? Mal ganz abgesehen von pragmatischen Fragen, die sich ja immer stellen können (Muss in der Küche gerade das Essen vom Herd? Brauchen die Kinder gerade Aufmerksamkeit?), richtet sich der Blick bei der nahenden Ankunft oft schon einmal auf die Uhr und man hält Ausschau. Es ist eine angenehm gespannte Erwartung, wenn wir uns auf jemanden freuen, der zu uns kommt. In dieser Haltung üben wir uns auch im Advent, damit wir an Weihnachten bereit sind, wenn ER kommt.

Bekanntes Adventslied drückt Vorfreude und Vorbereitung aus

Auch eines der beliebtesten Lieder der Adventszeit drückt diese Haltung aus: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit“. Es ist ein altes Lied, dessen Text auf Georg Weißel (1623) zurückgeht und das wir in einer Vertonung von 1704 singen. Der Takt dieses Liedes ist ein beschwingter, munterer Walzertakt, ein Sechs-Viertel-Takt, der – in diesem Rhythmus gespielt und gesungen – ganz belebend wirken kann. Und allermeist stimmen auch viele im Gottesdienst freudig und mit kräftigen Stimmen in dieses Lied ein, so wie es in der ersten Strophe auch heißt: „derhalben jauchzt, mit Freuden singt“.

Von Strophe zu Strophe wird deutlicher, dass sich alle Vorfreude und Vorbereitung auf den richtet, der selbst mit Freude, mit Wonne und Wohltat, mit Freundlichkeit und gutem Rat das Leben und das Heil bringt. Also im besten Sinne ein sehr lieber Gast, der erwartet wird. Die Anfangszeilen des Liedes gehen auf Psalm 24 zurück, in dem es sogar zweimal heißt: „Ihr Tore, hebt eure Häupter, hebt euch, ihr uralten Pforten, denn es kommt der König der Herrlichkeit!“ (Ps 24,7) Dieser Psalm wird David zugeordnet und dem Einzug des Herrn in sein Heiligtum.

Wir erwarten Gott

Die Heilige Schrift im Judentum bedeutet Gegenwart Gottes. Und für diese Gegenwart sollen die Tore und Pforten sich heben und weit öffnen. Das war in der Geschichte Israels besonders wichtig in der Erfahrung nach der Zerstörung des Tempels, des Heiligtums Gottes: die Gegenwart Gottes im Wort.

Die Kirche hat diesen Psalm schon früh in den Gebetsschatz und die Liturgie des Advent integriert. Wenn wir dieses Lied singen, dann bekennen wir nicht nur eine Sehnsucht und Erwartung, die sich auf einen fernen Zeitpunkt der Ankunft richtet, sondern auf genau diesen Moment, auf unsere Gegenwart: Wir erwarten Gott jetzt. Er ist in diesem Augenblick gegenwärtig. ER ist da!

Das bekennen und glauben wir inmitten einer Welt, die nicht heil ist, in der noch nicht alles zum Guten gewendet ist. Theologisch können wir von einer „präsentischen Eschatologie“ sprechen, das heißt: die Hoffnung auf Heil ist jetzt da, das Heil selbst ist immer schon Gegenwart und doch noch nicht vollendet. Es ist genau diese Spannung zwischen dem „Schon“ und „Noch nicht“, die die Eschatologie im Kern ausmacht. Jesus sagt es so: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch!“

Sehnsucht nach der „heilen Welt“

Bei einem lieben Gast, den wir freudig und gespannt erwarten, kann schon mal etwas dazwischenkommen: Jemand verspätet sich oder muss im letzten Moment ganz absagen, und dann ist die Enttäuschung verständlicherweise groß. Das kann nicht geschehen, wenn wir Gott erwarten, wenn wir für ihn die Tore und Türen weit öffnen. Gott kommt – wie erwartet! Er ist nicht fern!

Das mag naiv klingen, denn: Wie halten wir all das aus, was durch die Ankunft Gottes in der Welt doch keineswegs heil geworden ist? Was ist mit den Menschen, die sich von Gott verlassen fühlen? Was ist mit den Krebskranken, die darauf hoffen, dass die Chemo hilft und eine vielleicht rettende OP möglich macht? Was ist, wenn Menschen in den Flutregionen dieses Sommers in Deutschland noch immer darauf warten, dass sich die Lage endlich bessert, wenn gerade jetzt zu Weihnachten das eigene Zuhause, Geld und Arbeit besonders schmerzlich fehlen? Was ist mit Eltern, die in froher Hoffnung ein Kind erwarten, das aber stirbt? Was ist bei denen, die auch in diesen Tagen einen Menschen vermissen, der gestorben ist? Was sagen wir den Menschen, die aus ihren Heimatländern geflohen sind in der Hoffnung auf ein Leben in Würde, und die nun seit Wochen in unwürdigen Zuständen an der Grenze von Polen und Belarus verzweifelt ausharren? Was ist mit den vielen Menschen, die sich für das Klima einsetzen und so wenig Veränderung sehen können? Was ist mit all den großen Hoffnungen und Erwartungen, dass die Corona-Pandemie endlich aufhört, die das Leben wieder so stark begrenzt?

Diese Liste ließe sich doch schier endlos fortsetzen. Und ja, man kann in manchen Momenten wirklich verzweifeln. In anderen Momenten arrangieren wir uns mit dem Elend und der Not. Und manchmal reichen auch die Kräfte nicht, um uns der eigenen Not und der Not anderer nähern zu können. So zeigt sich das Leben eben auch an den weihnachtlichen Festtagen, in denen die Sehnsucht nach der „heilen Welt“ vielleicht besonders stark empfunden wird.

Die Gegenwart Gottes sichtbar machen

Seit jeher bewegen diese Fragen die Menschen. Wenn – wie wir als Christen glauben – mit der Menschwerdung Gottes in diesem Kind von Bethlehem, in Jesus Christus, ein grundsätzlicher Wendepunkt der Geschichte gesetzt wurde, wenn Gott und Welt untrennbar miteinander verbunden sind, dann muss das doch für uns heute auch etwas bedeuten und erfahrbar sein können, auch angesichts von Leid und Not in der Welt und im eigenen Leben. Wenn das Kind von Bethlehem der erwartete Gast ist, der unser Leben zum Besseren wendet: Was kann das für uns jetzt bedeuten? Wo und wie erfahren wir es?

Auch der heilige Ignatius von Loyola (1491 – 1556) hat sich mit diesen Fragen auseinandergesetzt, und es gibt eine Passage in seiner Anleitung zu Exerzitien, an die ich denken muss. Im Verlauf der Ignatianischen Exerzitien lädt eine Übung zu einem Perspektivwechsel ein: Wir sollen uns ganz menschlich vorstellen, wie die drei göttlichen Personen – Vater, Sohn und Heiliger Geist – miteinander im Gespräch sind und auf die Welt schauen. Sie sehen dabei auch das Elend der Welt, Katastrophen, Gewalt, Sünde. Gemeinsam kommen sie zu der Schlussfolgerung, dass so die Schöpfung doch nicht gedacht war und dass all diesem Elend ein Ende bereitet werden müsse.

So beschließen sie gemeinsam, dass einer von ihnen Mensch wird, sich auf dieses Leben wirklich einlässt und sich in all die Katastrophen, die Gewalt und die Sünde der Welt selbst hineinbegibt. Wenn wir diese Szene betrachten, die der heilige Ignatius ja nicht „erfunden“ hat, sondern zu der ihn die spirituellen Quellen des Glaubens geführt haben, dann können wir an mehreren Punkten Hinweise für unsere Fragen finden: Gott steht der Welt nicht gleichgültig gegenüber. Die Erfahrungen der Welt werden zu Erfahrungen Gottes, sie bewegen Gott, der sieht, dass – anders als im Schöpfungsbericht der Bibel – nicht alles gut ist.

Mit der Menschwerdung nimmt Gott teil an der Verletzlichkeit unseres Lebens und setzt sich dem aus. Gott teilt das Leben der Menschen, Gott teilt mein Leben. Das ist die Ankunft Gottes im Kind von Bethlehem an Weihnachten. Wir müssen eben nicht mehr darauf warten, dass Gott eines fernen Tages unser Schicksal und das Schicksal der Welt auf sich nimmt, sondern es geschieht bereits. Und wir sind eingeladen, an diesem „Projekt der Rettung der Welt“ mitzuwirken, also diese Gegenwart Gottes sichtbar zu machen. 

Wir erwarten Gott

Durch die Menschwerdung Gottes hat sich die Welt, das Leben der Menschen ein für allemal verändert, und zwar nicht nur der Menschen, die an Gott glauben, sondern aller Menschen. Deshalb ist es gut, dass wir mit Jauchzen und mit Freude die Tore und Türen weit aufmachen, denn wir erwarten Gott, der uns nicht auf ein anderes Mal vertröstet, sondern der wirklich jetzt kommt. Von ihm dürfen wir „Rat und Tat und Gnad“ für unser Leben und für unsere Welt erwarten.

Und wenn wir es selbst nicht vermögen, Gott zu erwarten, weil das Leben gerade zu schwer ist, dann können wir darauf vertrauen, dass wir von einer Gemeinschaft vieler Menschen getragen sind, die Gott in diesem Augenblick in ihrer Tür willkommen heißen und aus der Begegnung mit ihm Kraft schöpfen, um das Elend der Welt anzusehen und zum Guten zu wenden. Gott kommt zur Welt, Gott kommt zu mir und dir – wie erwartet! Bin ich bereit, ihn zu empfangen?

Ich wünsche Ihnen und allen, mit denen Sie das Leben teilen, ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest. Reinhard Kardinal Marx