Zentrales Prinzip der Christlichen Soziallehre

Was versteht man unter Gemeinwohl?

Gerade für Christen ist die Orientierung am Gemeinwohl ein entscheidendes Kriterium bei der Bundestagswahl. Aber was ist das überhaupt und wer setzt sich dafür ein?

Ist Gemeinwohl für alle möglich? © Bro Vector - adobe.stock.com

„Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesonders der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten.“ Für manche mag dieser Satz nahezu revolutionär klingen, aber er steht so seit 1946 in der Bayerischen Verfassung (Art. 151 Abs. 1).

Der Begriff „Gemeinwohl“ wird schon in der antiken Philosophie ausgiebig diskutiert. In der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie nimmt das Gemeinwohl im theoretischen Diskurs durchaus noch eine zentrale Rolle ein, aber in den Wirtschaftswissenschaften und in der realen Wirtschaft wurde er bewusst oder unbewusst immer mehr verdrängt. Dies kann unter anderem daran liegen, dass es keine allgemein anerkannte Definition von Gemeinwohl gibt. Dieses Manko teilt es mit anderen Begriffen wie Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheit oder Menschenwürde. Dass keine allgemeingültige Definition gefunden werden kann, heißt jedoch nicht, dass es sich nicht lohnen würde, sich damit auseinander- und dafür einzusetzen.

Menschenwürdiges Leben

Das Wohl eines Menschen lässt sich am besten als menschenwürdiges Leben zusammenfassen, wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948 formuliert wurde. Dazu gehören unter anderem das Recht auf Freiheit, körperliche Unversehrtheit, Meinungs- und Religionsfreiheit, soziale Sicherheit, Arbeit und Bildung. Diese Rechte sollen nicht nur für einige wenige gelten, sondern für alle. Dieses „für alle“ ist das wesentliche Kernstück des Gemeinwohls.

Die Gemeinwohldebatte ist eng verbunden mit der Frage nach dem „guten Leben“, wie sie in den vergangenen Jahren besonders in südamerikanischen Ländern unter dem Begriff „buen vivir“ diskutiert wurde. Einerseits leidet die Debatte darunter, keine allgemein gültige Definition von einem „guten Leben“ zu haben, andererseits kann es aber auch als Chance betrachtet werden, den Begriff für kulturelle, persönliche, religiöse oder wertespezifische Eigenheiten offen zu halten.

Aus diesem Grund ist es vielleicht leichter, sich zuerst klar zu machen, was „gutes Leben“ nicht ist. Bereits Aristoteles bezeichnete ein Leben, das nur dem Zweck des Überlebens und der Existenzsicherung dient, als „bloßes Leben“. Ein „Mehr an Leben“ findet sich nicht nur in den Religionen, sondern über alle Jahrhunderte hin in der Philosophie, Literatur und Politik.
So vielfältig die Definitionen sind, so vielfältig sind auch die Ansätze und Wege zum Gemeinwohl in Politik und Wirtschaft. Die jüngste Geschichte hat gezeigt, dass das Gemeinwohl noch am ehesten in einem demokratischen Rechtsstaat, verbunden mit einer sozialen Marktwirtschaft, verwirklicht werden kann.

Dialog-Angebot an alle Menschen guten Willens

Neben Personalität, Subsidiarität und Solidarität spielt das Gemeinwohl als zentrales Sozialprinzip in der christlichen Soziallehre eine wichtige Rolle. Die Idee des Gemeinwohls ist im Sinne der christlichen Soziallehre eng mit der Idee der Solidarität verbunden, die verstanden wird als „die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das ,Gemeinwohl‘ einzusetzen“ (Johannes Paul II.: Sollicitudo rei socialis 38) und als ein Ordnungsprinzip für Institutionen, das hilft, „Strukturen der Sünde“ zu überwinden und Strukturen der Solidarität zu schaffen.

Die christliche Soziallehre richtet sich nicht nur an gläubige Christinnen und Christen, sondern ist ein Dialog-Angebot an alle Menschen guten Willens und damit eine Einladung, miteinander – über die unterschiedlichen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen hinweg – nach einem gemeinsamen und vertieften Verständnis von Gemeinwohl zu suchen.

Die christliche Soziallehre ist kein geschlossenes und kein abgeschlossenes Gedankengebäude, sondern befindet sich in einem stetigen Erneuerungs- und Erweiterungsprozess. So etablierte sich in den letzten Jahrzehnten die „Nachhaltigkeit“ als weiteres Prinzip. So soll das Gemeinwohl auch das Recht beinhalten, in einer gesunden und intakten Umwelt zu leben. Papst Franziskus hat durch seine Enzyklika „Laudato si“ der Nachhaltigkeit einen festen Platz in der christlichen Soziallehre gegeben.

Eine weitere Entwicklung liegt in der Einsicht, dass das Gemeinwohl nicht an Nationalitäten gebunden ist, sondern für alle Menschen im Sinne eines „Weltgemeinwohls“ gelten soll. Bereits in der Enzyklika „Pacem in terris“ sieht Papst Johannes XXIII. die Sorge für das Gemeinwohl als Existenzgrund der staatlichen Gewalt und spricht von einem „universalen Gemeinwohl“. In dem Artikel „Auf dem Weg zu einer Politik des Weltgemeinwohls“ (Kompass – Soldat in Welt und Kirche, 2012) skizziert Erzbischof Ludwig Schick den Begriff „Weltgemeinwohl“ und die Bedeutung für eine globale Politik.

Alternative zum jetzigen Wirtschaftssystem

In den letzten Jahren erfuhr die Gemeinwohldiskussion im wirtschaftlichen Bereich einen starken Impuls durch den Österreicher Christian Felber. Er stellt unser jetziges Verständnis von Wirtschaft infrage und versucht, im Rahmen der „Gemeinwohl-Ökonomie“ der Wirtschaft (oikonomia) ihren ursprünglichen Sinn und Platz in der Gesellschaft zurückzugeben. So soll beispielsweise der
Erfolg eines Wirtschaftsunternehmens nicht nur am Umsatz und am Gewinn gemessen werden, sondern auch daran, welchen Anteil es für das Gemeinwohl beigetragen hat. Zur Ermittlung dieses Anteils gibt Felber den Wirtschaftsunternehmen die von ihm entwickelte „Gemeinwohl-Bilanz“ zur Hand. Der Weg zur Gemeinwohl-Ökonomie erfolgt durch Überzeugungskraft und demokratische Mittel.

In vielen Bereichen vermag der Markt durchaus einen wichtigen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten, besonders dann, wenn ein funktionierender und fairer Wettbewerb gewährleistet ist. In Bereichen der Daseinsvorsorge, des Gesundheits- und Bildungswesens scheint dies fraglich zu sein, wenn diese allein dem Wettbewerb ausgesetzt sind. Zu groß ist die weitere Spaltung in eine Zweiklassengesellschaft. Das heißt nicht, dass es keine privaten Schulen, Universitäten und Kliniken geben darf, aber sie sollten eher die Ausnahme sein. Dass in der kommunalen Daseinsvorsorge, im Gesundheits- und Bildungswesen noch ein enormer Verbesserungsbedarf vorhanden ist, wie uns die Corona-Pandemie vor Augen geführt hat, steht außer Frage.

Teile der Finanzwirtschaft haben anscheinend völlig die Gemeinwohlorientierung verloren. Sie dienen nicht mehr der Realwirtschaft, sondern versuchen vor allem durch Spekulationen nur mit Geld noch mehr Geld zu generieren, ohne Wertschöpfung. Der große Profit kommt nur ganz wenigen zugute. Hier bedarf es enorme Anstrengungen, die Finanzwirtschaft so zu verändern, dass sie wieder das Gemeinwohl aller Menschen im Blickfeld hat.
Auch in der relativ jungen Branche der Digitalwirtschaft und der „Social Media“ steht das Gemeinwohl nicht an erster Stelle. Unbestritten sind viele Vorteile der Digitalisierung, auf die man heute kaum noch verzichten mag.

Nachholbedarf an Korrekturen

Andererseits sind die berechtigten Interessen der Nutzer, letztendlich der Bürgerinnen und Bürger, durch die Monopolstellung einiger Konzerne und durch die asymmetrische Machtverteilung zugunsten dieser enorm gefährdet. Hier besteht noch ein großer Nachholbedarf an Korrekturen, damit das Gemeinwohl nicht gänzlich unter die Räder kommt.

Man könnte noch viele Beispiele aufführen, die zeigen, wo Defizite in der Gemeinwohlorientierung liegen, und wie wichtig das Gemeinwohl für den Zusammenhalt der Gesellschaft ist. Neben vielen anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren mahnen kirchliche Hilfswerke, Verbände, Laienräte, Bischöfe und Päpste die Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik auf, sich mehr für Solidarität und Gemeinwohl einzusetzen.

Rechte und Pflichten gehören in einem funktionierenden demokratischen Rechtsstaat eng zusammen. Es mag keine eindeutige Verpflichtung für die Bürgerinnen und Bürger geben, sich für das Gemeinwohl in Deutschland und weltweit einzusetzen, für Christinnen und Christen sollte es jedoch eine Selbstverständlichkeit sein. Die bevorstehende Bundestagswahl gibt dazu eine Gelegenheit.
(Josef Fuchs, Vorsitzender des Sachbereichsgremiums Ökologie und Globale Verantwortung des Diözesanrates und stellv. Vorsitzender im Sachausschuss Mission, Gerechtigkeit und Frieden im Landeskomitee der Katholiken in Bayern)