Denkmäler, Friedhöfe, Heimat

Was Orte der Erinnerung über uns aussagen

Was bedeutet Erinnerung? Warum braucht es bestimmte Orte dafür? Philosophie-Professor Walter Schweidler erzählt im Interview über die Suche nach der Wahrheit über uns selbst.

Für Professor Walter Schweidler ist es gut, wenn die Lebenden sich in die Nähe der Toten begeben. © locrifa - stock.adobe.com

mk online: Warum sind Orte für die Erinnerung so entscheidend?

Walter Schweidler: Wenn wir vom menschlichen „Dasein“ sprechen, dürfen wir den Sinn des Wörtchens „da“ nicht außer Betracht lassen. Der Mensch ist kein freischwebender Geist, sondern er hat einen beseelten Leib, der seinem Leben einen Zeitort gibt, den er nur ausschreiten, nicht aber verlassen kann. Da wir Personen sind, werden wir sogar in einer jenseitigen Existenz einen Ort behalten, der jeden von uns zumindest gegenüber allen anderen unserer Art definiert. Große Denker wie Claude Lévi-Strauss und Robert Spaemann haben diesen urtümlichen Zusammenhang zwischen Person und Ort betont. Der Mensch gehört an seinen Ort. Noch heute gilt es in Japan als großes Unglück, wenn man weit vom Geburtsort bestattet werden muss. Persönlich hat es mich sehr berührt, als ich in Yorba Linda in Los Angeles das winzige Häuschen besucht habe, in dem Richard Nixon geboren wurde und an dessen Rückwand er sich hat begraben lassen. Wenn wir Erinnerungsorte aufsuchen, dann bedeutet das, ob wir es uns bewusst machen oder nicht, dass wir auf der Suche nach der Wahrheit über uns selbst sind.

Was ist das überhaupt, ein Ort? Ist das eine rein geographische Festlegung?

Schweidler: Der Ort ist etwas ganz anderes als der Raum, obwohl es ihn natürlich nur „im“ Raum gibt. Am kürzesten hat es Edward Casey ausgedrückt: „place happens“. Der Ort geschieht mit denen, die sich an ihm befinden oder ihn suchen. Lebewesen werden von ihm bewegt: Die Vögel ziehen an ihn, im Herbst wie im Frühling. Odysseus, Äneas und so viele Helden in den Gründungsmythen unserer Zivilisation verbringen ihr Leben auf der Suche nach ihm. Darum sprach Aristoteles vom „natürlichen Ort“, zu dem alles hinwill. Das deutsche Wort „Heimat“ bedeutet genau das.

Wir sprechen in ganz unterschiedlichen Kontexten von Erinnerung: sowohl im individuellen Bereich als auch im Sinne einer Erinnerungskultur. Was bedeutet eigentlich Erinnerung?

Schweidler: Wie der heilige Augustinus so grandios gezeigt hat, existiert alles Zeitliche überhaupt nur in der „distentio animi“, der Ausdehnung des Geistes über den unfassbaren Augenblick hinaus, der ja nur der Durchgangspunkt ist zwischen dem, was nicht mehr, und dem, was noch nicht existiert. So wenig, wie wir uns jenseits unseres Ortes begeben können, so wenig können wir den Inhalt unserer Erinnerung von außerhalb ihrer selbst betrachten. Die Wahrheit über uns selbst finden wir nur in ihr. Das heißt natürlich auch, dass diese Wahrheit gegen die ständige Möglichkeit der Täuschung erkämpft werden muss. Paul Ricoeur hat tausend Seiten darüber geschrieben in seinem Alterswerk „Gedächtnis, Geschichte, Vergessen“, in dem man seinen ganz persönlichen Kampf gegen den Verlust der Erinnerung nachverfolgen kann. Jeder von uns wäre erschüttert, wenn er erführe, wie sehr sich seine Erinnerung manchmal von dem unterscheidet, was tatsächlich gewesen ist. Aber wenn es, wie gesagt, so ist, dass wir aus unserer Erinnerung niemals „aussteigen“ können, dann gibt es für die Korrektur unserer Täuschung nur einen Maßstab, nämlich die Erinnerung der anderen. Ihr müssen wir uns aussetzen, mit ihrem Wahrheitsanspruch uns auseinandersetzen. Darum ist Erinnerung eine immer auch politische Angelegenheit, und darum braucht es eine Erinnerungskultur, die dafür sorgt, dass es wenigstens Grenzen gibt für die leider ja richtige sprichwörtliche Feststellung, dass der Sieger die Geschichte schreibt.

Was unterscheidet eine philosophische von einer psychologischen oder gehirnwissenschaftlichen Herangehensweise an die Erinnerung?

Schweidler: Die gehirnwissenschaftliche Forschung kann nur notwendige materielle, körperliche Bedingungen für Erinnerung und Ursachen für ihre mögliche Störung benennen. Die Psychologie kann hingegen schon die Wahrheitsfrage stellen, also die Frage nach den Bedingungen, die hinreichend sind dafür, Erinnerung von Einbildung zu unterscheiden. Aber wo sie das tut, erreicht sie schon die Schwelle zur Philosophie. Die Philosophie kann, losgelöst von jeglicher therapeutischen Arbeit an konkreten Personen, den Zusammenhang zwischen Wahrheit und Erinnerung ganz allgemein und abstrakt bedenken – was nicht jeder verstehen wird.

Wie beurteilen Sie die Bedeutung von Denkmälern?

Schweidler: Denkmäler sind Ausdruck des unaufhebbar politischen Charakters unserer Erinnerung. Sie sollen uns zum Denken bringen, nicht uns das Denken abnehmen. Ein Diktator, der ein Denkmal aufstellt, um Erinnerung zu diktieren, statt sich ihr auszusetzen, handelt genauso übel wie ein Mob, der es zerstört, um Erinnerung auszulöschen. Denkmäler verraten mehr über die, die sie aufstellen, als über den, den sie darstellen.

Was ist ein angemessener Umgang mit Denkmälern? Wenn man etwa an den Alten Nordfriedhof in München denkt: Dort werden schon seit Jahren keine Menschen mehr begraben, er ist mittlerweile eine Art Park, in dem Kindergeburtstage stattfinden und sich manch ein Liebespaar ein lauschiges Plätzchen zum Verweilen sucht. Ist das gut so? „Lebt“ der Friedhof dadurch weiter? Oder ist es einfach pietätlos und unangemessen?

Schweidler: Es ist gut, wenn die Lebenden sich in die Nähe der Toten begeben. In Çatalhöyük, der ältesten in unserer Zivilisation freigelegten Stadt, waren die Toten unter den Sitzbänken der Häuser der Lebenden bestattet. Das Leerwerden der Friedhöfe ist jedoch eine der entsetzlichsten und unmenschlichsten Entwicklungen unserer Zeit. Wenn der Friedhof stirbt, stirbt die Zivilisation, die er verkörpert. Am Schluss- und Höhepunkt des „Faust“ verliert der Teufel die Wette, weil er den Unterschied nicht versteht zwischen „vorbei“ und „nie gewesen“. In diesem Unterschied liegt die Rettung des menschlichen Daseins, und sie liegt wesentlich auch begraben in unseren Friedhöfen. (Walter Schweidler ist Professor für Philosophie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Interview: Katharina Zöpfl, MK-Redakteurin)