Bibel-Leseschule

Was ist mit "Wort" im Johannes-Evangelium gemeint?

"Am Anfang war das Wort, und das Wort war auf Gott hin, und Gott war das Wort": So heißt es im Prolog des Johannes-Evangeliums. Viele bleiben beim Lesen erstmal ratlos zurück.

„Im Anfang war das Wort, und das Wort war auf Gott hin, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1). © lamppost - stock.adobe.com

Das Evangelium der Heiligen Nacht (Lk 2,1–14) ist die Weihnachtsgeschichte schlechthin; es hat unsere Bilder von Weihnachten geprägt und spricht kirchliche Stammkunden und Fernstehende gleichermaßen an. Was man dagegen am ersten Weihnachtsfeiertag hört, kommt aus einer anderen Welt.

Der Prolog des Johannes-Evangeliums (Joh 1,1–18) dreht sich in kreisenden Bewegungen um ein „Wort“, unter dem sich kaum jemand etwas Konkretes vorstellen kann: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war auf Gott hin, und Gott (oder: von göttlicher Art) war das Wort.“ (Joh 1,1). Und als ob das nicht genug wäre, steigen ab Vers 4 auch noch „Leben“ und „Licht“ auf dieses Wortkarussell.

Nicht umfassende Übersetzung

Bleiben wir zunächst beim „Wort“. „Wort“ ist hier eine zutreffende, aber nicht umfassende Übersetzung des griechischen Wortes „Lógos“. „Lógos“ heißt zwar „Wort“, aber auch: „Rede“, „Sinn“, „Plan“, „Rechnung“, „Grund“, „Erklärung“, „Regel“, „Überlegung“, … kurz: etwas, das gedacht und mitgeteilt wird. Während in Joh 1,1–3 das Verhältnis dieses Lógos zu Gott umschrieben wird, geht es in den folgenden Versen um sein schwieriges Verhältnis zur Welt: Durch den Lógos als vermittelnde Instanz hat Gott die Welt erschaffen, aber die Welt nimmt den Lógos nicht auf.

„Wie lese ich die Bibel mit den Augen des 21. Jahrhunderts?“ – Dieser Frage geht die Bibel-Leseschule der Münchner Kirchenzeitung wöchentlich nach. Von der Arche Noah bis zum Jüngsten Gericht greift sie heiße Eisen der Heiligen Schrift auf und erläutert sie interessierten Gläubigen von heute.

Gott in der Philosophie

Diese Gedanken sind nicht einzigartig: Auch im Judentum gab es im ersten Jahrhundert nach Christus Denker, die den Glauben an den Gott Israels so formulieren wollten, wie es vor dem Hintergrund ihrer philosophischen Bildung intellektuell redlich war. Dabei gab es ein Problem: Antike Philosophen hatten zwar keine Schwierigkeiten damit, von „Gott“ zu sprechen, aber in der Regel meinten sie damit ein Wesen, das in keiner Beziehung zur Welt steht und das mit Materie, Zeit, Vergänglichkeit nichts zu tun hat.

In der Bibel heißt es aber ganz unbefangen, dass Gott die materielle Welt geschaffen habe, dass er mit Menschen wie Abraham, Mose oder den Propheten gesprochen habe, dass man im Kult und im Gebet zu ihm in Beziehung treten könne. Mit einem philosophischen Begriff von „Gott“ passt das alles nicht zusammen.

Jesus ist das "Wort"

Daher nahmen jüdische Denker zur Zeit Jesu an, dass es zwischen Gott und der Welt etwas Vermittelndes geben müsse. Dafür kam neben der „Weisheit“ (vgl. Spr 8,22–31) auch das „Wort“ Gottes in Frage: In der ersten Schöpfungserzählung (Gen 1,1 – 2,4a) erschafft Gott die Welt, indem er sagt, was entstehen soll. Dass unser Text in Joh 1,1 mit „Im Anfang“ beginnt, ist eine Anspielung auf den Beginn dieser Schöpfungserzählung. Das „Wort“ Gottes ist dann nicht nur ein bestimmtes Wort oder ein Satz, sondern die Tatsache, dass Gott überhaupt spricht, also mit der Welt kommuniziert. 

Was mit dem „Lógos“ konkret gemeint ist, erfahren wir erst gegen Ende des Prologs, in Vers 14: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat sich niedergelassen bei uns, und geschaut haben wir seinen Glanz, einen Glanz wie vom Einziggeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“ Wer das Johannes-Evangelium kennt, weiß, dass Jesus gemeint ist. In Joh 1,17 wird das ausdrücklich gesagt, und auch zwei Einschübe über Johannes den Täufer (Joh 1,6–8.15) machen es eindeutig. 

Das Johannes-Evangelium


Das vierte Evangelium im Neuen Testament bietet eine Jesus-Erzählung von eigener Art und mit theologischem Tiefgang. Es umfasst 21 Kapitel, wobei Kapitel 21 als Nachtrag gilt. Die ersten zwölf Kapitel stellen das öffentliche Wirken Jesu dar. Die Kapitel 13 bis 19 konzentrieren sich dagegen auf die letzten 24 Stunden im Leben Jesu: Abendmahl, Abschiedsreden, Passion. Kapitel 20 und 21 sind Ostererzählungen.

Das Evangelium nennt den Namen seines Verfassers nicht. Sein Gewährsmann ist „der Jünger, den Jesus liebte“, doch der bleibt im Evangelium namenlos. Erst später im zweiten Jahrhundert wurde er mit dem Apostel Johannes identifiziert. Entstanden ist dieses Evangelium wohl um 100 nach Christus; über den Ort sind die Meinungen geteilt: Traditionell nimmt man Ephesos an (in der heutigen Türkei, südlich von Izmir), häufig wird auch Syrien vorgeschlagen. Eine Minderheit will das Johannes-Evangelium in Alexandria/ Ägypten entstanden sein lassen. (sw)

Was Weihnachten eigentlich bedeutet

Hier verlässt der Johannesprolog den Boden dessen, was philosophisch denkbar war: Lógos und „Fleisch“ (menschliche Körperlichkeit) passen nicht zusammen – schon gar nicht, wenn der Lógos nicht nur körperlich erscheint oder sich mit „Fleisch“ verkleidet, sondern definitiv zu „Fleisch“ wird. Die Leistung des Johannes-Evangeliums besteht aber gerade darin, dass es die spekulative Vorstellung von einem Lógos Gottes mit der Lebensgeschichte des Menschen Jesus von Nazareth ausfüllt. Dass es diesen Menschen gibt, das bedeutet: Gott tritt zur Welt in Beziehung.

Während die Weihnachtsgeschichte des Lukas dies in einer anschaulichen Erzählung darbietet, wird im Johannesprolog durchdacht, was das alles eigentlich bedeutet: Was in der Heiligen Nacht geschehen ist, will der Johannesprolog bei Tageslicht betrachten.
(Stephan Witetschek, Privatdozent für Neutestamentliche Exegese, Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Leiter des Projekts „Memoria Apostolorum“ an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München)