Mutter aller Sozialenzykliken

Vor 125 Jahren veröffentlichte Papst Leo XIII. "Rerum novarum"

„Über die neuen Dinge“ – Für viele kam die Antwort auf die „Soziale Frage“ zu spät. Doch Papst Leo XIII. legte damit das Fundament für die Entwicklung der christlichen Soziallehre.

Papst Leo XIII. veröffentlichte 1891 die Sozialenzyklika "Rerum Novarum" und setzte damit die Grundpfeiler für die christliche Soziallehre. (Bild: imago) © imago

Rom – Seit dem Verlust des Kirchenstaates 1870 an das vereinigte Italien fühlte sich Papst Pius IX. (1846-1878) als "Gefangener im Vatikan". Für Europas politisch bedrängte Katholiken blieb er in dieser politisch bewegten Zeit dennoch die herausragende Identifikationsfigur. Doch, als Fels, bewegte er sich auch nicht mehr. Die einst liberale Galionsfigur der 1840er Jahre starb 1878 als Kämpfer gegen den Liberalismus. Und auch für die "Arbeiterfrage" hatte er sich in seiner extrem langen Amtszeit nicht erwärmen können. Zu seinem Nachfolger wird Vincenzo Gioacchino Pecci gewählt, fast 68 Jahre alt und gesundheitlich nicht zum Besten gestellt. Doch Leo XIII. (1878-1903) hat einen vitalen Start: Er steuert einen Kurs zur Öffnung gegenüber der modernen Welt und durchbricht die "Festungsmentalität" der Kirche. Als erstes Ziel formuliert er die Aussöhnung von Kirche und Kultur. Und mit seiner Enzyklika "Rerum novarum" setzt er 1891 neue Maßstäbe in der kirchlichen Sozialverkündigung.                     

„Die Kirche kann in ihrer Verkündigung nicht neben der Zeit herlaufen, sondern muss mitten in die Welt hinein und die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums deuten. Das bedeutet nicht, dass die Kirche sich anpassen soll. Denn wir sagen auch, wenn sich etwas widerspricht. Wichtig ist: Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen – was ihm langfristig und nachhaltig dient, das müssen wir fördern“, so Kardinal Marx. Dies sei der grundlegende Gedanke von Rerum novarum gewesen und sei es bis heute.                

In "Rerum novarum" beklagt der Papst eine oft sklavenähnliche Lage der Arbeiterschaft. Zugleich wendet er sich aber gegen den Klassenkampf und plädiert für eine Zusammenarbeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Er verteidigt das Privateigentum, betont jedoch dessen Sozialverpflichtung. Weitere zentrale Forderungen sind gerechte Löhne und staatlicher Schutz für Arbeitnehmer.            

Was bereits sehr nach den Grundlagen unserer Sozialen Marktwirtschaft klingt, bedeutet freilich noch keineswegs auch ein Bekenntnis zur Demokratie. In seinem 23. Pontifikatsjahr packte der 90-jährige Papst mit der Enzyklika "Graves de communi" genau dieses "heiße Eisen" an. Ihr konkreter Bezug liegt in Italien, wo die junge Generation der christlichen Organisation "Opera dei congressi" aufbegehrte: Sie wollte sich nicht länger mit sozialen Aktivitäten und Werken begnügen, sondern christliche Partei sein. Die Enzyklika erkennt die Arbeit der "christlichen Demokratie" an. Der entscheidende Satz war allerdings: Leo XIII. warnt davor, den Begriff "christliche Demokratie", der lediglich das "mildtätige christliche Handeln für das Volk" bezeichnen könne, "in das Politische zu verdrehen". Die Kirche sei für alle Stände da, habe aber auch die unteren nicht zu bevorzugen. So sagt auch Kardinal Marx: „Papst Franziskus hat es in seiner Ansprache bei der Verleihung des Karlspreises aufgegriffen: Wirtschaftsmodelle dürften nicht darauf ausgerichtet sein, einigen wenigen zu dienen, sondern vielmehr dem Wohl jedes Menschen und der Gesellschaft. Und das verlange, so Franziskus, den Übergang von einer ‚verflüssigten‘ Wirtschaft zu einer sozialen Wirtschaft.“      

Mit diesen beiden Lehrschreiben hat Leo XIII. Marksteine der päpstlichen Soziallehre gesetzt. Wie prägend vor allem "Rerum novarum" war, belegt, dass sich gleich mehrere Sozialenzykliken schon mit ihrem Titel darauf rückbeziehen: so etwa "Quadragesimo anno" (Im 40. Jahr; 1931) von Pius XI. oder "Centesimus annus" (Das 100. Jahr; 1991). Zunächst war letzteres Schreiben von Johannes Paul II. (1978-2005) tatsächlich vor allem als eine Erinnerung an die allererste Sozialenzyklika geplant. Doch dann kam 1989 der von dem polnischen Papst so erhoffte Sturz des Sozialismus dazwischen.       

Mit "Centesimus annus" reagierte Johannes Paul II. auf die neue Lage. Dem geistigen Vakuum und dem erwarteten kapitalistischen Konsumismus in den Transformationsstaaten Mittel- und Osteuropas hielt er den bewährten Geist der katholischen Soziallehre entgegen. (kna/mf)