Drei Jahre später bot ich mich einem Wanderbuch-Verlag als Autorin an. So kam es, dass ich für meinen ersten Wanderführer 2004 erneut über den Camino Francés pilgerte, für weitere Bücher über die Vía de la Plata, den Nordweg, den portugiesischen Weg und den Camino Primitivo – und dass ich die Wege bis heute immer wieder gehe.
In der Pilger-Literatur ist immer wieder von außergewöhnlichen Begegnungen, schicksalhaften Fügungen und Zufällen während der Wanderung die Rede. Haben Sie so etwas auch erlebt?
Rabe: „Der Camino gibt dir immer genau das, was du brauchst“, heißt es. Das stimmt tatsächlich. Auf allen Wegen bekam ich stets genau das, was ich benötigte. Auf meinem ersten Weg saß ich eines Morgens mit schmerzenden, blutigen Blasen vor einer Dorfkirche. Ich heulte vor Wut, weil ich den Weg so nicht fortsetzen konnte. Da kam ein junger belgischer Pilger um die Ecke, zog ein paar Wandersandalen aus seinem Rucksack und meinte: „Probier es damit!“ Tatsächlich konnte ich damit schmerzfrei weitergehen, drei Tage lang mit seinen, weitere drei mit neu gekauften eigenen Sandalen.
Auf der Vía de la Plata riss mir der Rucksackriemen vor dem einzigen Schuster im Umkreis von mehreren Kilometern. An jeder anderen Stelle wäre es ein Problem gewesen, so flickte ihn der alte Schuhmacher ruckzuck zusammen. Und auch das gibt es: Im Herbst 2019 verliebte sich mein französischer Mitpilger in eine italienische Pilgerin. Beide hatten keine Beziehung gesucht. Nach dem Weg kehrte er nach Frankreich zurück, sie nach Italien. Trotzdem sind sie noch heute zusammen und planen sogar eine gemeinsame Zukunft.
Pilgern Sie selbst eigentlich aus einer religiösen oder spirituellen Motivation heraus?
Rabe: Ich bin weder religiös noch spirituell im klassischen Sinne. Dennoch bin ich, wie die meisten Pilgerinnen und Pilger, von der tieferen Dimension des Jakobswegs überzeugt. Auf dem Jakobsweg passieren Dinge, die anderswo nicht passieren. Zu den besonderen Momenten gehören für mich immer die Nächte in alten Klöstern. In San Nicolás de Puente Fitero zum Beispiel schläft man direkt in der kleinen Kapelle, in San Antón in der Ruine der alten Klosterkirche. Beide Orte haben eine ganz besondere Atmosphäre und ich fühlte mich dort unglaublich geborgen und behütet.
Würden Sie sagen, dass auf dem Jakobsweg eine ausgesprochen religiöse oder gar heilige Atmosphäre herrscht?
Rabe: Ich würde sagen, es herrscht eine sehr menschliche Atmosphäre. Der Jakobsweg versammelt die ganze Bandbreite der Menschheit, von tiefreligiösen Menschen bis hin zu Atheisten. Auch einem Buddhisten bin ich schon begegnet. Es sind alle Altersgruppen und sozialen Klassen vertreten, Menschen aus aller Welt mit unterschiedlichsten Charakteren und Weltanschauungen. An vielen anderen Orten sorgt eine solch bunte Mischung für Konflikte. Auf dem Jakobsweg ist es völlig egal, wer oder was man ist. Wir sind einfach nur Pilgerinnen und Pilger. Zwar mit unterschiedlichen Motivationen, aber einem gemeinsamen Ziel. Man hilft sich gegenseitig, passt aufeinander auf, unterhält sich, selbst wenn man gar keine gemeinsame Sprache hat – irgendwie versteht man sich auf einer menschlichen Ebene immer.
Man hört und liest viel von Erfüllung, Trost, Euphorie, Lebensorientierung auf dem und durch den Jakobsweg. Wie sieht es eigentlich mit Rückschlägen und Enttäuschungen aus?
Rabe: In der Tat gibt es Menschen, die mit dem Pilgerweg hadern. Menschen, die durch positive Pilgerberichte zu hohe oder falsche Erwartungen hatten und enttäuscht sind, wenn sich bei ihnen die einzigartigen Erlebnisse nicht wie erhofft einstellen. Die zu sehr darauf fokussiert sind, das erleben zu müssen oder zu wollen, was andere beschrieben haben, und dabei ihre eigenen Pilgermomente übersehen.