Arbeitswelt

Ungleichheit? Ist doch gerecht!

Das christliche Menschenbild ist die ideale Basis für die heutige Arbeitswelt – sagt Bertram Brossardt, der Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft sowie der Metall- und Elektroarbeitgeberverbände bayme und vbm.

Bertram Brossardt © Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft

München – Hundert Jahre – viel Zeit für ein Menschenleben, aber für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen nur ein Wimpernschlag. Frauen sind in Deutschland erstmals vor etwa hundert Jahren zum Universitätsstudium oder zu politischen Wahlen zugelassen worden. Noch Ende der 1970er Jahre brauchten verheiratete Frauen das schriftliche Einverständnis ihres Ehemanns, wenn sie eine Arbeitsstelle antreten wollten. Von heute aus gesehen undenkbar. Doch nach wie vor bestehen jede Menge soziale Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern.

Vor Gott sind alle Menschen gleich

Nur um die Begriffe klar zu trennen: In einer pluralistischen Gesellschaft, in der Individualismus als hohes Gut gilt, kann „Gleichheit“ nur unter bestimmten Aspekten ein fundamentaler Wert sein. Allumfassende Gleichheit würde den Talenten des Einzelnen nicht gerecht. Wohl ein Grund, warum Sozialismus nicht funktioniert hat – wenn etwa Ärzte, Professoren, Maurer und Traktoristen alle die gleiche Entlohnung bekommen, entfallen wichtige Leistungsanreize. Einheitsgrau ist out – Verschiedenheit macht das Leben bunt. Gleich sind wir Menschen nur vor Gott und dem (Grund?)Gesetz. Dort ist Gleichheit eine große Beruhigung. Doch davon abgesehen ist sie für Individualisten selten gerecht. Sind alle gleich, verkümmern die persönlichen Fähigkeiten des Einzelnen – und das wäre für die Gesellschaft und ihre arbeitsteilig ausgerichtete Wirtschaft eine Katastrophe.

Frauen bei Karriereentwicklung unterstützen

Wie aber steht es um Chancen-Gleichheit als das Fundament, auf dem individuelle Talente zur Blüte kommen? Laut Statistischem Bundesamt ist nicht einmal jede dritte Führungsposition mit einer Frau besetzt – ein Befund, der Bertram Brossardt ausgesprochen missfällt. Brossardt ist zugleich Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, vbw. Unter deren großem Dach sind Verbände und Unternehmen vereint, die für mehr als fünf Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze im Freistaat stehen – eine größere Wirtschaftsmacht gibt es im Süden Deutschlands nicht. „Es muss gesellschaftlich selbstverständlich sein, dass Frauen in Politik und Wirtschaft die gleichen Chancen haben. Wirtschaft, Politik und Gesellschaft müssen gemeinsam daran arbeiten, Frauen in ihrer beruflichen Entwicklung zu unterstützen.“

Wenn Brossardt etwas missfällt, greift er zum Telefon. Er ruft in diesem Fall einige der Unternehmer in seinem Verband an und schlägt ihnen vor, sich am Projekt „Frauen in Führungspositionen“ zu beteiligen. Ziel ist es, Frauen mit Führungsambitionen bei ihrer Karriereentwicklung zu unterstützen. 264 Frauen haben bisher teilgenommen. Fast jede zweite von ihnen konnte während der Teilnahme einen beruflichen Aufstieg verbuchen – vielen gelang der angestrebte Schritt in eine Führungsposition. Die Rückmeldungen aus den teilnehmenden Betrieben sei überaus positiv, sagt Brossardt: „Für die Unternehmen ist das ein Gewinn, wenn sie die bereits vorhandenen Potenziale besser nutzen können. Dass es uns seit mittlerweile zehn Jahren gelingt, Frauen bei ihrer Karriereentwicklung zu fördern, ist uns Freude und Ansporn zugleich. Es zeigt, dass wir einen Nerv getroffen haben.“

Im Interesse der Wirtschaft

Setzte man Gleichheit als absoluten Wert, müsste dann die spezielle Förderung von Frauen nicht wie eine tiefgreifende Ungerechtigkeit gegenüber Männern erscheinen? Davon könne freilich keine Rede sein, betont Brossardt: „Förderprogramme tragen dazu bei, Abstände wett zu machen, die über Jahrzehnte oder Jahrhunderte entstanden sind. Konkret sehen wir, dass Frauen sich auch im Jahr 2020 noch deutlich seltener für perspektivenreiche Berufe aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik entscheiden. An der Begabung liegt das freilich nicht, sondern an überlieferten Rollenbildern, persönlichen Vorlieben und gesellschaftlichen Erwartungen. In Berufsfeldern, in denen Frauen weniger stark repräsentiert sind, ist der Weg in Führungspositionen schon aus rein statistischen Gründen schwieriger. Dem entgegenzuwirken ist keine Ungerechtigkeit, sondern sowohl im Interesse der Wirtschaft als auch der Gesellschaft.“

Balance von Subsidarität und Solidarität

Es erinnert an das Gleichnis von den anvertrauten Talenten: Wen Gott mit einer besonderen Gabe ins Leben geschickt hat, dem hat er damit auch den Auftrag erteilt, etwas daraus zu machen. In diesem Sinn gelingt ein Stück Gerechtigkeit dort, wo Chancengleichheit gelingt. Wo die Hürden fallen oder zumindest kleiner werden, die dem Einzelnen bei der Verwirklichung seiner Talente entgegenstehen. Eine Gesellschaft, die dabei Hilfestellung leistet, ist eine wahrhaft christliche Gesellschaft. Das Ideal der Chancengleichheit sei allerdings nur aus freien Stücken erreichbar, meint Brossardt. Ein Zwang – etwa durch Quoten – führe wiederum zu neuen Verzerrungen und neuen Ungerechtigkeiten: „Zu den christlichen Werten gehört, dass jeder Einzelne unantastbare Würde und persönliche Freiheit besitzt und zugleich Verantwortung für sich und die Gesellschaft trägt. Diese Grundprinzipien der christlichen Soziallehre prägen unsere Gesellschaftsordnung. Als Wirtschaftsverband setzen wir uns – und ich mich persönlich – jeden Tag dafür ein, dass dieser Ordnungsrahmen mit der Balance von Subsidiarität und Solidarität erhalten bleibt.“

Der Blick in die Vergangenheit ist wohl immer mit Verwunderung verbunden. Wie bitte: Frauen brauchten vor 40 Jahren noch das Einverständnis ihres Ehemanns, um eine Arbeit aufzunehmen? – Auf dass sich unsere Kinder und Enkel in 40 Jahren die Augen reiben: Verrückt, damals war noch nicht mal jeder dritte Führungsposten mit einer Frau besetzt! Apropos: Die heute geborenen Babys haben eine statistische Lebenserwartung, die bis in die 2110er Jahre hineinreicht – eine ungewohnte Zahl für ein Datum, nicht? Von heute aus dieselbe Zeitspanne zurück durften Frauen gerade erst zur Wahl gehen. (pm)